Die Neuendettelsauer Mission

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hennie Avatar

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Was es bedeutet über ein unrühmliches Kapitel deutscher Geschichte wie „Kolonialismus und Mission“ zu schreiben, macht dieser Roman deutlich. Das allein ist eine sehr komplexe, umfassende Geschichte voller Widersprüche und von Unvereinbarkeiten. Im Roman treffen die Schicksale von vier Menschen aufeinander, die aus dem fränkischen, biederen und gottgefälligen Umfeld von Neuendettelsau in die exotische Welt von Neuguinea aufbrechen.
Für mich bedeutete es anfangs eine schwierige Annäherung an das Thema, da ich mir in meinem bisherigen Leben um deutsche Kolonien keinerlei Gedanken gemacht hatte. Ich machte mich schlau und tauchte so nach und nach besser in dieses Universum ein.

Die Ich-Erzählerin beginnt mit der Großmutter Linette, genannt Nette. Als Kind hörte sie von ihr oft Dinge, die sie als Märchen abtat, auch weil ihre Sprachwelt so explizit anders war. Doch was die alte Frau berichtete, beruhte auf Tatsachen. Es sollte noch lange dauern bis die Enkelin die Familiengeheimnisse zu erforschen begann und wissen wollte, was die Oma mit der Weltgeschichte, mit den Papua, mit dem Urwald verband.

Eine Erkenntnis von Linette:
S. 7 „Die Weltgeschichte wird nicht von den Frauen gemacht, aber sie müssen darin leben.“

Auf der Suche nach der Wahrheit recherchiert die Erzählerin die dicht verflochtene Familiengeschichte und füllt die Lücken mit viel Einfallsreichtum und mit ausdrucksstarker, lebendiger Sprache. Vor über 100 Jahren beginnt die abenteuerliche Reise in einen fernen Kosmos. In vier Teilen ( Teil I Aufbruch, Teil II Ankunft, Teil III Träume, Teil IV Abschiede) und von 1913 bis 1946 begleitet der/die Lesende Heiner Mohr, Johann Hensolt, Marie Reinhardt und Lisette Marchand durch ihr ereignis- und entbehrungsreiches Leben im Namen Gottes. Sie leben, arbeiten und missionieren im Kaiser-Wilhelmsland - Johann, der Missionar mit Nette und Heiner, der Plantagenbesitzer (Anbau von Kopra) mit Marie.

Über Heiner:
S. 95 „Wie die meisten Missionare hatte er kaum einen Begriff von den Sitten, gegen die sie dauernd verstießen. Sie hielten sich an die göttlichen Gebote, da konnte nichts falsch sein.“

Der Schreibstil ist nicht ganz einfach, da es viele Zeitsprünge und keine Zeichen für die wörtliche Rede gibt. Ich fand es trotzdem ausdrucksstark erzählt, voller schöner Bilder („Explosion in Grün" S. 101) und nicht ohne Humor (z. B. vergleicht Marie des öfteren die Menschen mit Tieren).
„Dein ist das Reich“ trägt autobiografische Züge. Katharina Döbler ist Kind einer Missionars- und Pfarrersfamilie und verarbeitet aus familiärer Wahrnehmung die kolonialistische Vergangenheit und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart.
Noch eine Anmerkung: Im Stammbaum hat sich beim Sterbejahr von Heiner Mohr ein Fehler eingeschlichen. Er ist nicht 2005 gestorben. Da wäre er 115 Jahre alt geworden!

Fazit:
Ich habe dieses Buch gern gelesen. Es füllte eine historische Lücke in meinem Geschichtswissen. Es war sehr spannend, mich mit diesem charakteristischen Teil der Kolonialismusgeschichte und einer mir bis dahin weitgehend unbekannten Welt auseinanderzusetzen.
Sehr nützlich und unterstützend beim Lesen sind der Familienstammbaum und die Inselkarte. Das Cover in seiner zurückgenommen Farbigkeit und der Titel passen gut.

Ich kann diesen Roman mit gutem Gewissen, vor allem geschichtsinteressierten Lesern, empfehlen und vergebe meine Höchstbewertung!