Flüchtlingsaugen bleiben Flüchtlingsaugen.

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juma Avatar

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Ich beginne meine Rezension in der Überschrift mit einem Zitat. Diese traurige Feststellung bleibt für mich im Buch bis zum Schluss bittere Wahrheit.
Susanne Benda legt mit „Dein Schweigen, Vater“ ihren ersten Roman vor. Nirgends wird erwähnt, wie lange sie dafür recherchiert hat, wie lange sie wahrscheinlich mit dem Text gerungen hat, der auch ein Spiegelbild der Erlebnisse in ihrer eigenen Familie ist. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es sehr schwer ist, das Innenleben naher (schon verstorbener oder noch lebender) Verwandter zu beleuchten und zu beschreiben. Der Klappentext und die Leseprobe hatten sofort meine Aufmerksamkeit, wieder ein Buch über die Vertreibung von Deutschen aus ihrer Heimat, wieder eine Geschichte vom Verschweigen und vom Suchen nach der Wahrheit hinter dem Schweigen. Erst im Februar hatte ich Christiane Hoffmanns Buch „Alles was wir nicht erinnern“ gelesen. Auch sie wanderte auf den Spuren der Flucht ihres Vaters, ging dafür Hunderte Kilometer zu Fuß.
Susanne Benda aber schreibt kein Sachbuch über einen solchen Fluchtweg, sie entwickelt vor den Augen des Lesers einen Roman, der bis tief in die Seelen der Protagonisten blickt. Zu Beginn des Buches hatte ich Schwierigkeiten, mich in den ungewöhnlichen Stil einzulesen, aber mit jeder weiteren Seite zog mich das Buch mehr in seinen Bann.
Die Geschichte ist in zwei Teile unterteilt, die ineinanderfließen und sich gegenseitig aufbauen. Grundlage bildet Paul Lustigs Kindheit, die im Gegensatz zum Familiennamen überhaupt nicht lustig ist. Paul wächst in Brünn auf, in einer deutschen Familie, mit tschechischen Nachbarn und Freunden. Die Nazizeit, die „Heim ins Reich“-Mentalität stellt die Ursprünge dieser Stadt auf den Kopf. Als Hitler den Krieg verliert, verlieren die Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei nicht nur ihr gewohntes Leben, sie werden mit Hass und Gewalt überschüttet, am 31. Mai 1945, Fronleichnam, werden 27.000 Brünner Deutsche aus der Stadt gejagt. Mittendrin ist Paul mit seiner Familie, die so viel Schreckliches erfährt, dass es Paul schier den Verstand raubt. Am Ende der Vertreibung ist er in Wien bei seiner Tante Agnes untergekommen, aber er hat alle Verwandten, alle Freunde und auch die Freude am Leben verloren. Trotzdem wird er studieren, heiraten, Kinder haben und immer dann, wenn ihm jemand zu nahekommt, in den Garten gehen und seine Rosen schneiden. Die Kinder erfahren fast nichts aus der Vergangenheit ihres Vaters. Das ist in vielen Familien so, die Opfer wollen die Liebsten vor den eigenen schlimmen Erlebnissen schützen.
Die beiden Kinder von Paul, das sind Maria und Uli, im Roman nun beide um die 50, und jeder für sich in einer Krise. Uli ist gegen den Willen der Eltern, „er sollte ja mal was Besseres werden“, Schuhmacher mit Leib und Seele, ein Eigenbrötler, ein Eremit, der nur schwer aus seiner Werkstatt zu holen ist. Seine Schwester Maria hingegen ist gerade „in Trennung“, hat zwei beinahe selbstständige Kinder, und die Idee, ein Sabbatical in ihrem Lehreralltag einzulegen. Marie ist die dynamische der beiden Geschwister, die sich von Klein auf sehr nahe sind. Nun also wird Maria ihren Bruder aus der Reserve locken, hängt ihm ein Schild in die Werkstatt, dass jetzt Betriebsferien sind, und beide beginnen eine verrückte Reise in einem VW-Bus. Irgendwie schaffen sie es, immer an anderen Orten zu landen, als sie es planen. Uli ist schon mega genervt, als Maria plötzlich ihre Mutterrolle hervorgeholt und den verhafteten Sohn aus spanischer Haft retten will. Auf geht es nun doch in den Süden, aber in Lyon ist Schluss, bis dahin hat sich der gerade wieder entlassene Sohn schon durchgeschlagen.
Dann gibt es im Roman einen plötzlichen Schnitt und man steht am Grab von Paul, der sich nach einem Schlaganfall nicht mehr erholte. Hinterlassen hat er nicht viel, keine Erklärungen, nur einen uralten und nicht abgesendeten Brief an einen Freund findet Maria, der wieder nur das ausdrückt, was sie schon lange weiß: der Vater schleppte seine Kindheitserlebnisse immer mit sich herum, aber konnte darüber weder sprechen noch schreiben.
In dieser Situation machen sich Maria und Uli, diesmal ohne den Bus, auf den Weg nach Brünn, um endlich zu sehen, woher der Vater kam, wohin er vertrieben wurde und was er ihnen ein Leben lang verschwieg. Beide mit unterschiedlichem Elan und mit unterschiedlichen Erwartungen. Roadmovie Nummer zwei nimmt seinen Lauf, Benda beschreibt sehr anschaulich und sensibel, wie man sich fühlt, wenn man in der Vergangenheit gräbt, wie enttäuscht man ist, wenn rein gar nichts zu sehen ist in der Heimatstadt des Vaters. Dass diese gemeinsame Entdeckungsreise nicht ohne Tränen, Streitereien und Missverständnisse bleibt, verwundert da nicht.
Eine kleine Gedenktafel auf einer Wiese, wo fast 1000 vertriebene Deutsche verscharrt sind, ist mit einem so nichtssagenden Text ausgestattet, dass es mich als Leser geschüttelt hat. Anrührend sind die Erlebnisse der beiden auf ihrem Weg, den sie teilweise zu Fuß zurücklegen wie 1945 der Vater. Sie lernen unterschiedliche Leute kennen und erfahren ein wenig von dem Land, das sie besuchen. Trotzdem bleibt gerade die Zeit in Brünn ohne große Erkenntnisgewinne.
Die Autorin greift auf ein sehr breit gefächertes und fundiertes Fachwissen zurück: sie hat Musik- und Theaterwissenschaft und Germanistik studiert. Das spürt man an ihrem eigenwilligen Stil, aber mehr noch an den Passagen, die sie der Musikalität und Musikkennerschaft Ulis und der Musik ganz allgemein widmet. Die Charakterisierung ihrer Protagonisten gelingt Benda auf sehr einprägsame Weise, man spürt den „Rucksack“, den Pauls Kinder mit sich tragen, von dem sie eigentlich nichts wissen, aber der immer da ist.
Das Schlusskapitel ist ein versöhnlicher Ausgang, es hat mir sehr gefallen. Jeder, der das Buch liest, wird erfahren, wie doppeldeutig das Wort versöhnlich sein kann.
Das Nachwort über den Brünner Todesmarsch deckt noch einmal die historischen Hintergründe auf. Hier vielleicht für den Leser ein Tipp: in München gibt es seit 2020 ein Sudetendeutsches Museum, das die Ereignisse und die Folgen der Vertreibung sehr ausführlich und eindrucksvoll schildert. Für mich war dieses Buch wie ein zusätzlicher Film im Kopf, der die Ausstellung und meinen Horizont enorm bereichert.
Ich beende meine Rezension mit einer klaren Kaufempfehlung und folgendem Zitat „Ist Vergessen das Beste, und heilt Zeit wirklich alle Wunden?“. Meine Antwort: Zweimal Nein.