Macht tief betroffen. Ein Schweigen, das lange nachhallt

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sleepwalker1303 Avatar

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Susanne Bendas Buch „Dein Schweigen, Vater“ ist ein emotionales und bewegendes Buch über das Schweigen und den Einfluss der Traumata derer, die im zweiten Weltkrieg Kinder und Jugendliche waren, auf die folgenden Generationen. Obwohl an fiktiven Personen ausgerichtet, schreibt Susanne Benda auch über ihre eigene Familiengeschichte, denn ihr Protagonist, der 12jährige Paul Lustig, steht sinnbildlich für ihren Vater Leopold, der sich ebenfalls als Zwölfjähriger auf den „Brünner Todesmarsch“ machen musste.
Geschwiegen hat er, der Paul. Die Welt um sich herum mit seinen „Flüchtlingsaugen“, wie seine Tante Adele sie nennt, angeschaut und die Bilder, die er in sich trug, dort begraben. Und mit niemandem darüber geredet. „Ich habe jedenfalls nichts gefragt. Ich habe mich einfach nicht getraut. Und heute bin ich mir sicher, dass mein Nicht-Fragen mit dafür gesorgt hat, dass dieses große Schweigen in unserer Familie geblieben ist.“, sinniert Maria. Aber hätte sie denn eine Antwort bekommen? Vermutlich nicht. Denn er hat Fragen „fest eingeschnürt in Paul Lustigs großes Schweigepaket, und dort hat er sie nie mehr hinausgelassen.“
Susanne Bendas Publikum hingegen sieht die Bilder und Erinnerungen. Denn sie nimmt es mit ins Brünn des Jahres 1945. Als aus Menschen, die jahrelang zusammen gelebt und gearbeitet haben, ja Freunde waren, Feinde werden („»Ich hatte Freund«, sagt Pavel, der Großvater. »Und ich hatte Freundin. Waren beide deitsch oder halbdeitsch, aber habe ich erst gemerkt, als Krieg vorbei. Vorher nur Freunde.«“). Sie nimmt ihre Leserschaft mit in die Hitze des Fronleichnamstages, an dem sich rund 27000 Menschen ohne Wasser und Verpflegung auf den Weg Richtung niederösterreichische Grenze machen mussten. Angetrieben von Menschen, die sie zum Teil ihr Leben lang kannten und die es „Rückführung ins Reich“ nannten. Mehr als 5000 Menschen überlebten die Tortur nicht, darunter Pauls Großeltern. Aus diesen schrecklichen Bildern, die die Autorin hier zeichnet, besteht der erste Teil des Romans.
Der zweite Teil zeigt das „Danach“. Denn Paul und seine Mutter überlebten den Todesmarsch, seine Mutter starb nach der Ankunft in Wien an Typhus. Paul wuchs bei seiner Tante Adele auf, studierte, heiratete und wurde zweimal Vater. Und schwieg, bis zum Schluss. Er konnte, wie so viele, nicht über das Erlebte reden. „Dieses Schweigen ist eine Krankheit, die sich vererbt.“, für seine Tochter Maria ist es klar. Klar ist auf jeden Fall: dieses Schweigen ist ein Schatten, der über der ganzen Familie, bis in die folgenden Generationen, liegt. Und dabei liegen im Schweigen oft mehr Worte als in ganzen Sätzen.
Maria und Uli, Pauls inzwischen lang erwachsene Kinder, sind durch das Trauma ihres Vaters geprägt. Maria scheint in ihrem Leben nicht wirklich zu Hause zu sein. Sie steht vor der Trennung von ihrem Mann, ihre beiden Kinder sind aus dem Haus. Uli ist in seinem Leben als Schuhmacher glücklicher, er mag die ruhige Gleichmäßigkeit. Dennoch lässt er sich von Maria zu einem Urlaub überreden, der ihre Rastlosigkeit zeigt. Erst nach Norden, dann nach Süden und dann noch eine Reise, um den Weg des Vaters von Brünn nach Wien nachzuempfinden.
Der Schluss des Buchs ist traurig-schön. Er schließt den Kreis, den das Buch beschreibt. Von Paul, Marie und Pavel aus dem ersten Kapitel zu Uli, Maria und Pavel im letzten. Der inzwischen verstorbene Paul ist in den Erinnerungen präsent. Pavel bringt mit seinen Erzählungen ein bisschen Licht in die Vergangenheit und macht Pauls Schweigen leichter.
Die Epigenetik erforscht, ob Traumata vererbt werden können. Die bisherigen Erkenntnisse sind interessant, das Thema ist im Buch allerdings nur am Rande gestreift. Uli und Maria sind ja nicht nur genetisch die Kinder ihres schweigsamen Vaters, sondern auch Ergebnis seiner Erziehung. Aber alles in allem ist es ein sehr emotional geschriebenes, oft bedrückendes Buch über beredtes Schweigen, gestohlene Kindheiten und Traumata und es wird noch lange in mir nachhallen. Von mir fünf Sterne.