Schmerzhafte Entdeckungen

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fraedherike Avatar

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"Wie kann ich wissen, was ich bin und will, wenn ich nichts darüber weiß, wie er war und warum?" (S. 107)

Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende, langsam kehrt wieder Normalität ein. Auch in Brünn, einer kleinen Stadt im Osten Tschechiens, meint man. Doch von einem Tag auf den anderen ist plötzlich alles anders: Paul und Marie dürfen nicht mehr gemeinsam mit ihren tschechischen Freunden in die Schule gehen. Und sie müssen nun eine weiße Binde tragen, N steht darauf, Němec. Deutsch. Sie werden bespuckt, gemieden, ihre Wohnungen werden beschlagnahmt – und die beiden Kinder verstehen die Welt nicht mehr. Dann: ein Klopfen, ein tschechischer Polizist. Die „Sudetendeutschen“ haben sich mit ihrem Hab und Gut am nächsten Tag, dem 31. Mai 1945, am Hofe des Augustinerklosters einzufinden. Was folgt, wird Paul niemals überwinden.

"Dieses Schweigen ist eine Krankheit, die sich vererbt." (S. 163)

Immer wieder legt sich diese Traurigkeit in Pauls Blick, „Flüchtlingsaugen“ nannte seine Tante Adele das einmal. Dabei ist er voll des Glücks, als er seine Tochter Maria in die Arme schließt. Aber auch seine Frau Christa merkt, dass sie mit Paul auch ein Schatten in ihr Leben getreten ist, etwas Unsagbares, das ihn umtreibt, nie zur Ruhe kommen lässt. Das ihn Briefe schreiben lässt an einen alten Freund, die er nie abschickt. Auch im Fotoalbum, das Maria und ihr kleiner Bruder Uli Jahre später durchblättern, scheint ihr Vater nur ein Schatten der Erinnerung: es gibt kein Bild von ihm. Und doch scheint er in seinen Kindern weiterzuleben. Immer wieder stoßen sie auf Probleme, fühlen sich wie getrieben. Ziellos, zerrissen, einsam. Hat das etwas mit der Vergangenheit ihres Vaters zu tun, über die er nie redete, seinem Schweigen?

"Warum halten wir es manchmal plötzlich nicht mehr aus mit einem Menschen, mit dem wir unseren Alltag so eingeübt haben, dass wir uns sicher fühlen? Und warum fangen wir in dem Moment, in dem wir uns von einem Menschen abwenden, an, so vieles von dem schlecht zu finden, was uns vorher getragen hat?" (S. 125)

Mit ihrem Debütroman „Dein Schweigen, Vater“ betritt Susanne Benda ein sensibles Pflaster, einen Teil der deutschen Geschichte, dessen Nachwirkungen sich bis in die Gegenwart zeigen. Bedrückend und in der Tonalität die damalige Nachkriegsatmosphäre hervorragend einfangend, beschreibt sie zunächst Pauls Kindheit, seine kindliche Liebelei und die Unbarmherzigkeit, mit der sich sein Leben von einem Tag auf den anderen verändern soll: Mit gerade einmal zwölf Jahren werden er und seine Familie nebst rund 27 000 deutschstämmigen Bewohner*innen aus Brünn ver- und zur Niederösterreichischen Grenze hingetrieben. Er sah Menschen sterben, vor Erschöpfung zusammenbrechen, spürte Hunger und endlose Trauer. Bereits diese ersten Seiten pochen dumpf und schneidend im Herzen und lassen dennoch nur erahnen, wie schrecklich es damals wirklich war.

Verhältnismäßig hart ist der Übergang in die Gegenwart, Zeit und Ort, politische Lage vollkommen anders. Als blättere man durch ein Fotoalbum, sieht man Szenen von Paul als jungem Familienvater, seiner Frau und seinen Kindern, die bald selbst erwachsen sind, eigene Probleme anzugehen haben. Nicht zuletzt die nahende Sprachlosigkeit ihres Vaters. Immer öfters fragen sie sich, warum sie so sind, wie sie sind: Maria wurde von ihrem Mann betrogen, wollte eigentlich mit ihm ein Jahr Auszeit nehmen, steht nun jedoch alleine da; Uli hingegen geht voll und ganz in seiner Arbeit als Schuster auf, lebt zurückgezogen und hat kaum soziale Kontakte. Beide tun sie sich schwer, die Weichen für ihr Leben, das, was sie glücklich macht, zu finden; sie haben Angst vor dem freien Fall. Fast so, als fehle ein Teil von ihnen. Ihr Leben lang wagten es beide nicht, den Vater nach seiner Kindheit, ihren Großeltern zu fragen und – nach dem „Brünner Todesmarsch“. Gemeinsam begeben sie sich auf die Spuren ihres Vaters, reisen über Umwege nach Tschechien, um die Strecke von Brünn nach Wien zu beschreiten – in der Hoffnung, sich über ihr Leben, ihre Zukunft klar zu werden.

Ich hatte ein wenig Probleme, mich in der neuen Erzählstimme einzufinden, war mir vor allem Maria anfangs nicht sonderlich sympathisch in ihrer schroffen Art, vor allem ihrem Bruder gegenüber. Aber auf gewisse Art fand ich mich als große Schwester da (leider) auch wieder, nech. Das allmähliche Herauskristallisieren, inwiefern die Traumata und das Schweigen ihres Vaters, seine Erinnerungen an den Krieg, sie zu den Menschen macht, die sie sind, hat etwas in mir in Gang gesetzt, ein Kribbeln, ebenfalls mehr über die Geschichte meiner Eltern und Großeltern erfahren zu wollen, wird mir auch oft gesagt: „Du bist genau wie Oma.“ Doch was genau, warum? Zum Ende hin etwas konstruiert und vorhersehbar, hat mich das Buch jedoch insgesamt sehr bewegt und mein Denken bereichert, hatte ich bis dahin noch nie etwas vom „Brünner Todesmarsch“ gehört, und auch persönlich betroffen gemacht, finde ich das Thema der generationsübergreifenden Traumata unglaublich spannend. Ein vor allem thematisch ungemein wichtiges und spannendes Buch, das nachhallt. Weiterführend kann ich euch die Dokumentation „Vererbte Narben - Generationsübergreifende Traumafolgen (2017)“ von Liz Wieskerstrauch sehr ans Herz legen.