David Copperfield in den Apalachen - Highlight

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»Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.«

Demons Leben beginnt unter undenkbar ungünstigen Voraussetzungen, in einer Gegend, die zuerst von den Bergwerksbesitzern verlassen wurde, dann von denen, die noch bei Verstand waren und zuletzt auch noch von Gott.
Seine Teenagermutter ist high, als er auf den dreckigen Vinylfliesen in einem Trailer auf die Welt kommt, sein Vater tot.

»Wenn die Mutter in ihrer eigenen Pisse liegt, rechts und links nichts als Pillenfläschchen, und man dem Kind, das sie rausgepresst hat, auf den Hintern patscht, damit es ein wenig lebendiger wird, dann siehts für den kleinen Bastard nicht gut aus. Das Kind einer Junkiebraut ist ein Junkie.« S.10

An seinem 11. Geburtstag knallt sich seine Mutter mit einer Überdosis Oxy weg und für ihn beginnt ein trauriges Leben in miesen Pflegefamilien. Gewalt, Hunger, harte Arbeit, Drogen sind seine ständigen Begleiter – der amerikanische Albtraum. Mit jedem neuen Kapitel wünscht man dem kleinen Rotschopf (daher sein Spitzname Copperhead), dass es diesmal für ihn gut ausgehen soll. Und immer wieder denke ich: Nein, bitte nicht auch das noch.

»Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.« S.741

Doch Demon hat eine Superkraft, na eigentlich zwei. Er liebt Comics und ist ein begnadeter Zeichner. Aus seinen Freunden macht er Superhelden, denn scheinbar mühelos erkennt er, was sie im Kern ausmacht. Nur seine eigene Superkraft zu erkennen, fällt ihm schwer. Aber er ist ein unverwüstliches Stehaufmännchen mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor. Als der 11-Jährige gefragt wird, was er einmal werden wolle, sagt er: »Hauptsache, noch am Leben«.

Nicht zuletzt ist es Kingsolvers herausragendes schriftstellerisches Talent mit ausgefallenen Sätzen, auffälligen Metaphern und Demons flapsiger Stimme, sein Schicksal für uns Leser*innen aushaltbar zu machen.

Kingsolvers Roman ist eine Hommage an ihre Heimat, die Appalachen. Dort, in einem der ärmsten Gegenden Amerikas, in Lee County, Kentucky, wächst ihr Protagonist auf. Ein Landstrich, der verächtlich als der Fußabstreifer des Landes bezeichnet wird, ihre Bewohner als Hillbillys. Um sie aus der Vergessenheit herauszuholen, transferiert sie Dickens Sozialdrama »David Copperfield« auf eine tief beeindruckende und intensive Weise. Mit der wachsenden Reife von Demon erfahren wir viel über die geschichtliche Entwicklung seiner Heimat, darüber, warum keiner Interesse an den Menschen hat, die von Sozialschecks, Schwarzbrennerei und Eigenversorgung leben. Und warum ausgerechnet sie das bevorzugte Opfer der Pharmaindustrie wurden.
Sie übt Kritik am bestehenden Sozialsystem, das massiv überfordert ist, deren Schutzbedürftige nur eine Aktennummer und sich selbst überlassen sind. Das alles wird überschattet von der großen Opioid-Krise, die in den letzten Jahren hunderttausend Tote hinterlassen hat. Demon ist ein dieser Babys, die schon süchtig zur Welt kommen.

Missverstanden, auf Stereotype reduziert, wegen ihres Akzents verspottet und ungesehen vom Rest der Welt. Und daher sind die letzten Worte in der Danksagung ihnen gewidmet:

»Die Kinder, die an diesen dunklen Orten jeden Tag hungrig erwachen, die ihre Eltern durch Armut und Schmerzmittel verloren haben, deren Sachbearbeiterinnen ständig ihre Akten verlegen, die sich unsichtbar fühlen oder sich wünschen, sie wären es: Dieses Buch ist für euch.«

Eine schmerzhaft schöne Geschichte, die mit jeder Seite süchtig macht, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben wird. 800 Seiten, die emotional fordern, aber ebenso spannend wie lehrreich sind, die viel zu schnell vorbei waren.