Der David Copperfield des 21. Jahrhunderts

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emma winter Avatar

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Was für ein Wurf! Hier erzählt Demon seine Lebensgeschichte und die hat es weiß Gott in sich. Die Handlung wird konsequent aus Demons Sicht erzählt, rückblickend, was einerseits bedeutet, dass er alles mit seinen kindlichen Augen sieht, andererseits natürlich als nun Erwachsener auch kommentieren kann. Die Geschichte des Waisenjungen, dem das Schicksal übel mitspielt, bleibt so dicht an Dickens Vorlage, dass es fast unglaublich erscheint, dass es dennoch eine so eindrucksvolle, intensive, eigene Geschichte ist - eingebunden in das 21. Jahrhundert im ländlichen Virginia mit allem Elend, das man sich vorstellen kann. Nicht nur zahlreiche Charaktere sind nahezu identisch angelegt, die Namen, Beziehungen, selbst kleinste Ereignisse werden "übernommen". Die Autorin spielt mit ihrer Vorlage, dass es eine Freude ist. Dass beide Romane 64 Kapitel haben, ist da nur das Tüpfelchen auf i. Die Adaption funktioniert so unglaublich gut, ich bin noch ganz hin und weg von diesem Roman. Als neuen Aspekt hat die Autorin die Opioidkrise (seit 1999), die in den USA besonders durch das Schmerzmittel Oxycontin ausgelöst wurde, hinzugenommen. Was da passiert ist, ist im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich. Das Ergebnis läßt sich so zusammenfassen: "Eine ganze Generation von Kindern wuchs ohne Familie auf." (S. 809) Ganz entscheidend wirkt sich diese Krise auch auf die Handlung des Romans und das Schicksal von Demon und seinen Weggefährten aus. Der Autorin war es ein Anliegen, für ihre Heimatregion eine Lanze zu brechen, deren Einwohner*innen als Hillbillies verschrien sind. Was die Opioidkrise gerade in diesem Landstrich angerichtet hat, ist schlicht furchtbar.

Der Roman liest sich ganz wunderbar. Die Stimme des Ich-Erzählers Demon ist witzig, ironisch, schlagfertig, originell und aufgeweckt. Wer David Copperfield kennt, wird begeistert sein und die, die das Buch von 1849/50 bisher nicht gelesen haben, werden es ebenso sein. Eine erschütternde (soziale Missstände, Pflegeelternsystem, Kinderarbeit, Drogen) und gleichzeitig auf humorvolle Weise unterhaltende Lektüre, die mich mit einem Aspekt in der US-Gesellschaft, nämlich der Opioid-Krise, vertraut gemacht hat, die ich bisher so nicht wahrgenommen hatte.

Sehr zu empfehlen ist nicht nur dieser großartige mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman, sondern auch die Serie "Painkiller" auf Netflix, die sich genau mit dieser Krise und dem Mittel Oxycontin beschäftigt.