Der moderne David Copperfield – mitreißend, düster, traurig, humorvoll, deprimierend, hoffnungsvoll

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Demon kommt als Baby einer alkoholkranken Teenie-Mom in einem Trailer im ländlichen Virginia auf die Welt, sein Vater ist bereits tot, Kontakt zu anderen Familienmitgliedern besteht nicht. Zum Glück gibt es da die Familie seines besten Freundes Maggot, die ihn ein bisschen unter die Fittiche nimmt. Demon sorgt schon als kleines Kind für seine Mutter, die nichts auf die Reihe bekommt. Für ihn ist das normal, er kennt es nicht anders. Als sie dann einen gewalttätigen Mann heiratet, wird Demons ohnehin schon schwere Kindheit noch schlimmer und gipfelt darin, dass seine Mutter stirbt. Er kommt von einer Pflegefamilie in die nächste, wird ausgebeutet, zur Feldarbeit gezwungen und zum Hungern verurteilt. Das Jugendamt ist entweder überfordert oder gleichgültig. Eines Tages reißt Demon aus und sucht seine ihm unbekannte Großmutter, die Mutter seines leiblichen Vaters. Dank ihrer Hilfe kommt er in die Pflegefamilie des beliebten Football-Coach Winfield und dessen Tochter Angus und erfährt, was es heißt eine Familie zu sein. Er wird zum begehrten Football-Spieler und alles könnte super sein. Doch dann wird er schwer verletzt, seine Football-Karriere ist zu Ende, die sorglos verschriebenen Schmerzmittel treiben ihn in die Abhängigkeit, die er mit seiner ersten großen Liebe Dori teilt. Sein Leben strebt auf den endgültigen Abhang zu und Demon ist sich dessen sehr bewusst. Ein herber Verlust zwingt ihn dazu, über sein weiteres Leben nachzudenken und zu versuchen, das Ruder wieder herumzureißen.

Das Cover gefällt mir persönlich sehr gut, weil es endlich mal keine Bilder von Menschen, Landschaften oder anderen Objekten zeigt, die mehr oder weniger oder auch gar keine Rückschlüsse auf den Inhalt des Buchs zulassen, sondern sich schlicht auf das Wichtigste der Geschichte konzentriert: Demon Copperhead.

Vor allem das erste Drittel habe ich als extrem berührend und nur schwer zu ertragen empfunden. Es ging gar nicht anders als vor Mitleid fast zu zerfließen und gleichzeitig unendlich traurig, wütend, hoffnungslos und zermürbt zu sein. Das war ganz schon viel auf einmal und nur Demons Sinn für Humor (er erzählt seine Geschichte hier selbst) hat mich davor bewahrt, allzu düstere Gedanken zu bekommen. Kingsolvers Schreibstil ist unfassbar grandios, mitreißend, lebendig, berührend und so gut zu lesen. Sie greift mit ihrer Adapation des Klassikers David Copperfield Themen auf wie den Opioidskandal/Drogensucht in den USA, Armut, Zweiklassengesellschaft, Pflegschaftsprobleme, Bildungssystem und so weiter. Der Mittelteil des Buches hätte für mich deutlich gestraffter sein dürfen, hier ging es ca. 300 Seiten lang um Demons Drogenproblem. Das gehört dazu, keine Frage, war für mich über diese Länge dann aber doch einfach zu viel und zu ausführlich. Nichtsdestotrotz und vor allem wegen des wirklich wunderbaren Schreibstils der Autorin, der es geschafft hat, dass ich beim Lesen jede einzelne Szene wie einen Kinofilm vor mir gesehen habe, kann ich schlicht keinen Stern abziehen und sehe über den eher langatmigen Mittelteil einfach hinweg.

Ein 864 Seiten starker Wälzer, der einen einsaugt, durchkaut und halbverdaut und mit vielen neuen Bildern im Kopf und einem irgendwie schweren und dennoch hoffnungsvollen Herzen wieder ausspuckt. 5/5 Sterne.