Ein Junge packt’s an

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
soleil Avatar

Von

Inhalt
Da(e)mon kommt in einem Trailer in den Wäldern Virginias zur Welt. Seine Mutter ist noch ein Teenager, sein Vater bereits tot. Sie kommen leidlich zurecht, es ist eine rohe Welt, aber seine Mutter bemüht sich. Doch als sie einen neuen Mann kennenlernt und heiratet, zerbricht auch das Wenige, was er hat. Er ist elf, als seine Mutter stirbt. Es beginnt eine Leidenssinfonie an Pflegestellen und desinteressierten oder vollkommen überarbeiteten Sozialarbeitern. Erst als Demon es anpackt, kommt Bewegung ins Spiel. In seiner letzten Pflegefamilie scheint es ihm gut zu gehen. Er passt sich an, geht wieder zur Schule und blüht auf. Bis das Schicksal erneut zuschlägt.


Meinung
Ein fürchterlich seitenstarkes Buch, das aber auch fürchterlich berührend ist. Die Autorin schreibt selbst, dass sie genau recherchiert und mit vielen Sozialarbeitern und betroffenen Kindern gesprochen hat. Daher ist anzunehmen, dass es sich nicht um bloße fiktive Erlebnisse des Jungen handelt, sondern diese ganz gewaltig von tatsächlichen Geschehnissen beeinflusst wurden. Besonders hervorzuheben, weil auch besonders beeindruckend, ist die Sprache, die Kingsolver verwendet. Es ist, als würde der Junge seine Geschichte mit eben seinen eigenen Worten erzählen. Das muss im Original noch mehr klingen, die deutsche Übersetzung ist aber sehr gelungen und hat es wahrscheinlich nicht leicht gehabt.
Die erste Hälfte überzeugt komplett, so lange, bis Damon zu seiner letzten Station gelangt. Ab hier beginnt sich das Geschehen leider fürchterlich zu ziehen. Zum einen ist es absolut vorhersehbar geworden, was passieren wird – und wie die Autorin alles aufzulösen gedenkt. Zum anderen geschieht plötzlich so gut wie nichts mehr.
Aber von Anfang an: Demon wird von einer Junkiemutter geboren, die ihn nicht an die Großmutter abgibt, sondern ihr Leben in den Griff zu bekommen versucht. Das gelingt ihr gar nicht mal so schlecht. Sie haben kaum Geld und der Junge wächst in der Natur auf, aber es gibt keine gewissen Substanzen und alles ist sauber. Doch dann kommt ein Mann ins Spiel, der keine Lust auf Ziehvater hat und nach der Hochzeit sein anderes Gesicht zeigt. Das in-den-Griff-gekriegte-Leben schwindet, die Mutter greift wieder zu, um der Realität zu entschwinden. Und so wird auch ihr Kind ein Pflegefall, so wie auch sie einst aufwuchs.
Damon ist noch sehr jung, hat sich jedoch schon eine eigene Sicht auf die Welt und seine Rolle darin zurechtgebastelt. Er schlägt sich durch; ein echtes Kind aus der Wildnis Virginias. Unglaublich, wohin es Pflegekinder verschlagen kann, da es kaum Plätze für sie gibt. Tabakfarmer, die billige Lohnkräfte brauchen. Familien, denen das Geld ausgeht und die das Pflegegeld einstreichen wollen, ohne sich um den Jungen zu kümmern, der sich im Haushaltsraum auf die Erde legen muss.
Es wird anschaulich geschildert, ergreifend, auch wenn vielleicht Klischee mitliest. Da es aber viele Höhen und Tiefen gibt und Damon sich zudem zu einem trotz allem liebeswerten Charakter entwickelt, fliegt Seite um Seite vorbei.
Dann hält er es nicht mehr aus und bastelt sich aus einer Idee etwas zurecht, das ihn zu einer vermögenden Familie – Vater und Tochter – bringt, die seiner Großmutter einen Gefallen schuldet. Ab hier scheint sich alles zu drehen. So viel Glück hat ein wirkliches Pflegekind vermutlich nie. Zudem ist Damon sehr intelligent und kann all das in der Schule Versäumte rasch aufholen, was nicht sehr an der Wirklichkeit dran ist. Talentiert im künstlerischen Bereich ist er auch noch – und zudem gibt es einen Lehrer, der ihn deswegen besonders fördert. Zusammen mit gutem Aussehen und Erfolg im sportlichen Bereich der Schule stehen Damon dann alle Türen offen. Es war einfach too much und vielleicht auch ein bisschen weit hergeholt. Seite um Seite zog sich immer stärker, der Sog war verschwunden. Im letzten Drittel konnte ich mich nur noch zum Querlesen aufraffen und fand genau das Ende vor, das ich bereits vermutet hatte. Ich vermute, dass die Autorin trotz ihrer Recherche kein Ende schreiben wollte, wie eben so ein Leben eines Pflegekindes fast zwangsläufig enden muss. Sie wollte es positiver halten. Aber das war so weit ab von der Realität, dass es ihr nicht gut gelungen ist.
Dennoch: Ich bin jedem Autor dankbar, der sich Themen wie Armut, Drogensucht, Pflegekinder und Co. heraussucht und es der Gesellschaft näherbringt. Das sind leider stark vernachlässigte Themen, die viel stärker ins Augenmerk gerückt werden sollte. Auch in Deutschland sind wahnsinnig viele Menschen davon betroffen.
„Demon Copperhead“ war sicherlich nicht einfach für die Autorin. Schon die Recherche muss ihr einiges abverlangt haben. Sie hat ihre Figur anfangs super getroffen, sie später aber zu stark gedreht, bis beinahe ein anderer dabei herausgekommen ist. Kein Roman, der mal eben so zwischendurch gelesen ist. Starke Nerven gehören dazu. Aber wer sich darauf einlässt, wird zumindest am Anfang voll belohnt. Eine Geschichte, die mitreißt.