Fenster und Spiegel zugleich

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leukam Avatar

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Barbara Kingsolver, 1955 geboren und in Kentucky aufgewachsen, ist eine anerkannte und mehrfach ausgezeichnete Autorin. Ihr neunter Roman „ Demon Copperhead“ wurde zu einem der „ 10 besten Bücher des Jahres 2022“ gekürt.
Für den Protagonisten und Ich- Erzähler Demon sind die Chancen von Anfang an schlecht. Seine junge Mutter ist drogenabhängig und arm. Die beiden leben in einem Trailer am Rand einer ehemaligen Bergarbeitersiedlung. Der Vater starb auf mysteriöse Weise vor Demons Geburt. Noch übler wird die Situation, als Demons Mutter heiratet. Der Stiefvater tyrannisiert und misshandelt Mutter und Sohn. Und dann stirbt die Mutter an Demons elftem Geburtstag an einer Überdosis Oxycontin.
Demon kommt in verschiedene Pflegefamilien, doch her erfährt er keine Liebe und Zuwendung. Von den einen wird er als billige Arbeitskraft ausgenutzt, die anderen sind nur am Pflegegeld interessiert.
Doch endlich scheint sich das Blatt zu wenden. Die Großmutter väterlicherseits verschafft ihm Zugang an eine High School und einen Platz im Haus des Footballtrainers der Schule. Für kurze Zeit wird Demon ein gefeierter Footballstar, bis ein Sportunfall die Karriere vorzeitig beendet.
Die Schmerzmittel, die er großzügig verordnet bekommt, führen in die Sucht und Abhängigkeit mit all ihren schrecklichen Folgen.
Es ist eine Zeit voller Leid, Gewalt und Verlust, aus der sich Demon nur mit der Hilfe guter Freunde befreien kann. Das Ende lässt Hoffnung aufkommen.
Diese Lebensgeschichte erzählt Demon im Rückblick. Sein schnoddriger, oftmals bissig- witziger Ton macht das Geschilderte einigermaßen erträglich. Denn es ist manchmal kaum zum Aushalten, was Demon und anderen Kindern angetan wird. Erschreckend zu sehen, wie Armut, Hunger, Gewalt und Verachtung das Leben so vieler bestimmt. Dazu kommt das institutionelle Versagen der zuständigen Behörden, die die ihnen anvertrauten Kinder nur verwalten.
Sicher, es gibt den Zusammenhalt der Familien und auch immer wieder Erwachsene, die sich Demons annehmen.
Demon selbst ist ein Kämpfer, der sich nicht unterkriegen lassen will. Aber auch er trifft falsche Entscheidungen, lässt sich mit Menschen ein, die ihm nicht guttun.
Die Autorin zeigt dabei sehr anschaulich, welche Auswirkungen Drogen auf die Konsumenten, aber auch auf deren Umfeld haben. Was es heißt, wenn sich alles nur noch darum dreht, Geld für den nächsten Kick zu verschaffen.
Barbara Kingsolver reagiert hier auf die Opioidepidemie in den USA . Durch das leichtfertige Verschreiben von Oxycontin und ähnlichen Schmerzmitteln stieg die Anzahl der Drogenabhängigen und Drogentoten enorm. Eine ganze Generation Kinder wächst ohne Eltern auf, weil diese entweder abhängig, im Knast oder tot sind. Die Pharmaindustrie macht ihre Gewinne auf Kosten der Ärmsten des Landes.
Ihr anderes großes Thema sind die Abgehängten dieser Region, die sog. „ Hillbillys“, auf die das andere Amerika herabschaut. Sie erzählt die Geschichte dieser Gegend, benennt die Schuldigen, die das Land heruntergewirtschaftet und die Bewohner ohne Perspektiven zurückgelassen haben.
Die Autorin hat sich für ihren Roman von Charles Dickens „ David Copperfield“ inspirieren lassen. Wie der englische Autor übt auch sie scharfe Kritik an den sozialen Missständen im Land und beleuchtet die verheerenden Auswirkungen von Armut und Perspektivlosigkeit auf das Leben von Kindern und Jugendlichen.
Man muss aber den englischen Klassiker nicht kennen, denn dieser Roman hier steht für sich.
Barbara Kingsolver wurde für „ Demon Copperhead“ 2023 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, gemeinsam mit Hernan Diaz, der die Auszeichnung für seinen Roman „ Treue“ erhielt.
Ich habe beide Bücher gelesen und auch wenn „ Treue“ mit seiner originellen Struktur und seinen unterschiedlichen Erzählformen literarisch ambitionierter sein mag, so halte ich „ Demon Copperhead“ für das wichtigere Buch. Wer Amerika, die Zerrissenheit des Landes und die Probleme seiner Bewohner besser verstehen möchte, der tut das nach der Lektüre des Romans.
Dieses Buch soll, so der Wunsch der Autorin, „ Fenster sein und Spiegel“. Die einen sollen verstehen und die anderen sich gesehen fühlen. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch und seine Botschaft von vielen gelesen und verstanden wird. Und dass sich niemand von seinem Umfang abschrecken lässt.