Manifest des Mitgefühls

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alasca Avatar

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Barbara Kingsolver hat mit ihrem neuen Roman ein ehrgeiziges Projekt verfolgt: Charles Dickens´ persönlichstes Werk, David Copperfield, in die Gegenwart zu verpflanzen. Zumindest beim Umfang, so sieht es jedenfalls aus, gibt es Parallelen. David Copperfield habe ich selbst noch nicht gelesen, was sich nicht als Nachteil erwies. Der Roman steht ganz und gar in eigenem Recht.

Das Setting der Geschichte ist ein Wohnwagencamp irgendwo in den Appalachen – die Gegend, in der die Rednecks und Hillbillys leben. Damon – so sein eigentlicher Name – kommt als Sohn eines süchtigen Teenagers zur Welt, der an einer Überdosis Oxycontin stirbt, als Damon gerade mal 5 Jahre alt ist. Damit ist das Thema gesetzt: Die Opiodkrise in den USA, verursacht von einem gewissenlosen Pharmakonzern und dessen Handlangern unter Ärzten und Apothekern, die vor allem in den strukturschwachen Gebieten gewütet hat. Demons Mutter ist eine der ersten von über 500 000 Sterbefällen durch diese Droge.

Demon Copperhead, wie er bald aufgrund seiner Haarfarbe genannt wird, gerät nach dem Tod seiner Mutter in die Mühlen des amerikanischen Sozialsystems. Pflegestellen sind rar und werden nicht nach Qualifikation ausgesucht. Ausbeutung und Misshandlung sind die Regel. Doch schließlich gelingt ihm ein Aufstieg durch sportliche Leistung – bis er eine schwere Knieverletzung erleidet. Der Arzt des Teams verschreibt ihm Oxycontin, Demon rutscht in die Sucht ab. Kingsolver, ganz wie Dickens, erspart ihrem Helden nichts, die Abwärtsspirale scheint unaufhaltsam, ein Unglück reiht sich an das andere. Der Roman wird rückblickend aus Demons Perspektive erzählt, und sein Stil ist witzig, ironisch und voller scharfer Beobachtungen.

„Das ist dir angetan worden“ beschwören ihn Freunde. Aber Demon will die Verantwortung für sein Leben nicht abgeben. Vor allem das macht den cleveren Helden dieses Romans so liebenswert – er will sich partout nicht als Opfer sehen. „Erst mal musste ich es schaffen, auf die Welt zu kommen.“ So lautet gleich der erste Satz des Romans; selbst seine Geburt versteht unser Held als aktive Handlung. Und er gibt nicht auf. Unterstützt wird er dabei von den Frauen im Ort: Die alte Nachbarin Mrs. Peggot und deren in der Stadt lebende Nichte June, die zu seinem Leitstern wird. Vor allem aber von Angus, seiner Pflegeschwester, die sich weiblichen Stereotypen verweigert und ihre eigene Sicht auf die Welt hat. Kingsolver setzt damit all den Frauen ein Denkmal, die die Härten der Opiodkrise durch ihre unermüdliche Care-Arbeit aufgefangen haben.

Strukturale Armut ist, wie bei Dickens, das zweite große Thema des Romans. Kingsolver lässt uns aus Demons Perspektive verstehen, in welchem Ausmaß die Region der Appalachen ihrer funktionierenden Strukturen beraubt und im Anschluss mitsamt den gesprengten Berggipfeln, leeren Kohleminen und bankrotten Gemeinden dem Absturz preisgegeben wurde. Damit nicht genug, wurde der „Hillbilly“ zum verachteten Prügelknaben der Nation. Demon erlebt es am eigenen Leib und wir mit ihm: Von Anfang an stigmatisiert durch Herkunft und Mangel, ist er in jedem Umfeld sofort als Hillbilly und „Trailer Trash“ zu erkennen. Aber er ist gewitzt und clever, und er hat ein großes Talent - er kann zeichnen. Nur: Wird ihn das retten?

„Demon Copperhead“ liest sich so farbig und lebensprall, dass einem die reale Welt blass vorkommt, wenn man die Lektüre beiseite legt. Vieles, von dem ich durchaus vorher wusste, ist mir erst dadurch richtig ins Bewusstsein gedrungen. Wie tagesfüllend aufwändig Sucht sein kann: Der nächste Turkey kommt bestimmt, es braucht Geld, es braucht Stoff, es braucht eine Quelle. Ein unglaublicher Stress. Auch, was durch Purdue Pharma über die USA gekommen ist, wie Familien zerstört und Heerscharen von Waisen produziert wurden, das habe ich erst mit Kingsolvers Roman emotional und nicht nur kognitiv verstanden. Kingsolver holt uns ins Bewusstsein, dass es überall Menschen gibt, die von Anfang an ein so schlechtes Blatt haben, dass sie nur verlieren können. Wieviel Resilienz könnten wir an ihrer Stelle aufbringen? „Demon Copperhead“ ruft uns auf zu Mitgefühl und Solidarität. Ein großartiger Roman. Lesen!