Von der ersten bis zur letzten Seite geliebt!

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»Ich sagte, dass mich noch nie jemand gefragt hatte, was ich werden wollte, wenn ich groß war, darum wüsste ich es nicht. Hauptsache, noch am Leben.«

Manchmal passiert es mir, dass ich Bücher lese, die mir so gut gefallen, dass ich meine Rezension dazu aufschiebe, weil ich schon im Vorfeld weiß, dass ich ihnen mit meinen Worten nicht gerecht werden kann. Genau so ein Fall ist das mit mir und Barbara Kingsolvers »Demon Copperhead«. Mit stattlichen 860 Seiten darf sich dieses Epos mit Fug und Recht als Great American Novel bezeichnen: schlagfertig-virtuos, dramatisch-emotional und eminent-literarisch! Und denen, die nun glauben, dass es aufgrund seines Umfangs langatmig wäre, sei versichert, dass die hier vorliegende Übersetzung von Dirk von Gunsteren kein Wort zu viel enthält, und ich – ganz im Gegenteil sogar – am liebsten noch viel mehr davon gelesen hätte!

Der titelgebende Ich-Erzähler Damon Fields – wegen seiner kupferroten Haare von allen nur Demon Copperhead genannt – wird in den 1980ern im Osten Nordamerikas, genauer Virginia, in ärmliche Verhältnisse hineingeboren. Hier gibt es nur Wälder, Tabakfelder, Arbeitslose – und Drogen, um damit klarzukommen. Die Menschen, und allen voran Demons Mutter, leben den amerikanischen Albtraum: ihr Kindsvater ist tot, sie ist trockene Alkoholikerin mit dem Hang, sich die falschen Männer auszusuchen. Der Stiefvater prügelt, die Mutter kommt (immer wieder) in den Entzug und das Kind zu Pflegefamilien. Es wundert wenig, dass diese jedoch in einer so wirtschaftsschwachen Region nur auf das Pflegegeld sowie die kostenlose Arbeitskraft ihrer Pfleglinge aus sind. Die Jahre vergehen und die Schicksalsschläge kumulieren. Aber der Junge, dessen Sterne im Leben alle auf »Scheitern« stehen, verliert nie den Mut, und irgendwann wendet sich für ihn das Blatt. In Obhut eines Coaches erfährt Demon als Teenager beinahe wahres Familienglück. Eine Position, die er als aktiver Spieler in der Footballmannschaft seiner Highschool zu stärken versucht. Alles läuft bestens, zum ersten Mal kann er sein Leben redlich genießen – bis es zu einer schweren Sportverletzung kommt. Im maroden US-Gesundheitssystem der späten 1990er floriert das Geschäft mit schmerzstillenden Opioiden. Pharmakonzerne verdienen Milliarden auf den Rücken ihrer Patient:innen, belügen diese wissentlich über die abhängig machenden Substanzen und ihre angeblichen Wunderwirkungen. Auch Demon wird ein Opfer jener Drogenkrise, die noch bis heute anhält – und Hunderttausende das Leben kostete.

Starker Tobak! Aber »Demon Copperhead« ist so viel mehr als seine Schicksalsschläge; Barbara Kingsolver hat sich in ihrem zehnten Roman vollumfänglich der prekären Perspektivlosigkeit der »Vergessenen« verschrieben. Ihr scheint es um Klassismus zu gehen, denn sie gibt den Menschen nun eine Stimme, die vom Rest der Welt sonst eben vergessen, belächelt oder gar als »Hillbillies« abgestempelt werden. Im Laufe der Handlung nimmt Demon diese Vorurteile immer wieder auf und ärgert sich über sie. Er weiß um die Stellung, die andere ihm in der Gesellschaft zuweisen wollen. Trotzdem (oder gerade deshalb!) ergreift er die kleinsten Chancen, um sich diesem scheinbar vorgeschriebenen Pfad zu entziehen. Mangelnde Bildung gleicht er durch Intelligenz, Witz und Resilienz aus. Und das ist für mich die größte Stärke dieses Romans: Vermutlich könnten Leser:innen allein von der inhaltlichen Zusammenfassung depressiv werden. Alles ist schlimm, schwer, tragisch und niemanden scheint das zu interessieren, Verbesserung ist nicht in Sicht. Aber auf keiner Seite von »Demon Copperhead« fühlt sich das beim Lesen auch so an! Demon erzählt selbst und wie ihm die Schauze gewachsen ist, derb, locker, mit einer ordentlichen Prise Sarkasmus – und herzzerreißender Ehrlichkeit. Das treibt das Erzähltempo ebenso voran wie die Lesefreude, ob der im Text eingestreuten, wunderschönen Aphorismen.

Ich habe »Demon Copperhead« von der ersten bis zur letzten Seite geliebt und empfehle es euch nur zu gern – gönnt euch dieses literarische Monument jetzt im Sommer, pünktlich zum #DickeBücherCamp!