Wie wird der Mensch zu dem Mensch, der sie*er ist?

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„Der Roman soll zwei Dinge tun: Er soll Fenster sein und Spiegel, so wie Bücher das sein können“ (Vorwort, VIII).

Wie wird Mensch zu dem Mensch, der sie*er ist?! Für manche Bücher fehlen im Grunde die Worte, denn sie müssen selbst erlesen und vor allem GEFÜHLT werden. Daher nur ein Versuch, der vermutlich rationaler erscheinen mag als von mir beabsichtigt, aber mit einer unbedingten Leseempfehlung verbunden ist! In Barbara Kingsolvers Neuinterpretation des Dickenschen Originals entfaltet sich auf über 860 Seiten die Geschichte einer Kindheit und Jugend, die kaum trauriger, schmerzvoller und berührender zu lesen sein könnte. Es ist DIE aufrüttelnde Geschichte von Demon Copperhead - ein einsamer und vernachlässigter Junge mit kupferrotem Haar, der von anderen spöttisch als der „Dämon mit dem Schlangenkopf“ bezeichnet wird und sich buchstäblich durch das Leben beißt. Als unzuverlässiger, äußerst ehrlicher, wortgewitzter und selbstironischer Erzähler gewährt er uns retrospektive Einblicke in seine zerrüttete und dysfunktionale Kindheit und Jugend. Diese Chronik der Abgründe war an manchen Stellen wirklich schwer zu ertragen, aber ist glücklicherweise und trotz der Tragik auch von äußerst humorvollen Momenten durchzogen.

Demon wächst ohne Vater bei seiner sehr jungen, alleinerziehenden und drogenabhängigen Mutter in den von der Opioid-Epidemie der 1990er Jahre geprägten Appalachen in Virginia auf, einer der ärmsten Regionen der USA. Zu früh muss er Verantwortung übernehmen und gewissermaßen in die elterliche Rolle schlüpfen. Von seinem gewalttätigen Stiefvater Stoner wird er schwer misshandelt, und während seine Mutter diverse Entzüge macht, wird er im Verlauf in zweifelhafte „Pflegefamilien“ gesteckt, die ihn ausnutzen und unmenschlich behandeln. „Demon Copperhead“ verhandelt ein vielschichtiges Potpourri an schweren Themen; es ist in der Tat ein Fenster und gewährt erschütternde Einblicke in elterliche Vernachlässigung und Gewalt, zutiefst menschliche Abgründe, unermessliche Suchtfolgen, in extreme Armut und die Folgen von Arbeitslosigkeit.

Als literarische Milieustudie beleuchtet der Roman außerdem das Versagen des amerikanischen Pflegesystems und die Ausbeutung von Waisenkindern. Kingsolvers episches Werk manifestiert zusätzlich auch ihren Wunsch, den Leser*innen die mit Ressentiments behaftete und marginalisierte Region der Appalachen näherzubringen, die dort lebenden Menschen sichtbar zu machen und ihnen eine Stimme zu verleihen.
Der Schreibstil mag anfangs etwas ungewohnt sein – direkt, jugendlich geprägt, ohne um den heißen Brei zu reden und gelegentlich, ja, auch etwas ausufernd – doch Demon hat sich definitiv in mein Leseherz geschlichen und wird einfach unvergessen bleiben❤️‍🩹. Trotz all der schlimmen Ereignisse ist es auch eine Erzählung über wohlwollende und gütige Menschen sowie über flüchtige Momente des Glücks und der Hoffnung. Das ist mir noch wichtig zu erwähnen und etwas notwendiger Seelenbalsam bei diesem absolut herausragenden, lehrreichen und einfach sehr aufwühlenden Lesehighlight!

Wunderbar übersetzt von Dirk van Gunsteren.