Sie tragen ihr Leben lang eine kurze Schulhose

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
mariederkrehm Avatar

Von

Patrick McGuinness bringt uns mit der Geschichte „Den Wölfen zum Fraß“ ziemlich plausibel den Ursprung einiger verstörender Eigenarten des oberen, männlichen Teils der britische Klassengesellschaft nahe. Wobei seine Geschichte eigentlich keine Geschichte ist, sondern vor gut zwölf Jahren tatsächlich passiert ist.

Michael Wolphram, pensionierter Lehrer des Eliteinternats Chapleton College, ist in dem Buch der einzige Verdächtige in einem Mordfall. Er soll seine Nachbarin Zalie Dyer getötet haben, und weil er elitär und zurückgezogen lebt, dient er der Öffentlichkeit als ideale Projektionsfläche für ihre Vorstellung von einem Frauenmörder. Auf diese einfache Lösung arbeiten die zwei zuständigen Ermittler zunächst auch hin.

Tatsächlich wurde im Winter 2010 die Landschaftsarchitektin Joanna Yeates in Bristol ermordet aufgefunden. Man verdächtigte den Ex-Lehrer Christopher Jefferies, und zwar ausreichend lange, um die Presse und die Öffentlichkeit massiv gegen den Mann aufzubringen. Er verklagte später zahlreiche Zeitungen erfolgreich auf Schadenersatz. Die Geschichte wurde verfilmt.

Patrick McGuinness’ Buch überzeugt mit einer gefeilten Sprache und den klugen Überlegungen des Ermittlers Ander Widowson, denen man seitenweise folgen kann, ohne dass es langweilig wird. Ander, zur Hälfte Holländer, halb Brite, war in den Achtzigern selbst am Chapleton College und hat den verdächtigen Michael Wolphram dort als Lehrer kennen und schätzen gelernt.

Im Gegensatz zu den anderen gleichgültigen und frustrierten Lehrern, allen voran der sadistische Konrektor Dr. Monk, inspirierte und respektierte Wolphram seine Schüler. Er analysierte mit ihnen Rilkes Panther oder schaute mit ihnen Quadrophenia. Daran kann Ander sich noch erinnern, und sein Partner Gary, selbst nicht den besten Kreisen entstammend, ist der erste, der Zweifel an der Schuld von Wolphram artikuliert.

„Den Wölfen zum Fraß“ ist weniger ein Kriminalroman, mehr ein erstklassiges Stück Literatur, das die naiv-idealisierte Vorstellung von Internaten und anderen Ausbildungsstätten ohne eine ausreichende familiäre Kontrolle Lügen straft. In Großbritannien tragen solche Einrichtungen zur Weiterführung und Verfestigung des Standessystems bei.

Gary sagt es etwas unverblümter, aber Ander stellt es zuerst fest: „Wenn du wissen willst, … was sie antreibt, da oben in ihren Houses of Parliament, ihren Banken oder Landsitzen, auf ihren Richterstühlen und Zeitungshaus-Rednertribünen … Meine Theorie ist, dass sie unter ihrem Prachtgewand immer noch eine kurze Schulhose tragen.“