Die Krankheit der Träume

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
nil Avatar

Von

Dieser Text entfaltet sich wie ein Protokoll der Sprachlosigkeit. Gleich zu Beginn setzt er ein mit der radikalen Abwesenheit von Gefühlen: Der Tod des Bruders wird „wie der Wetterbericht“ aufgenommen, nüchtern, fast mechanisch. In dieser Kälte liegt eine Wucht – sie deutet auf eine tiefe Verletzung, auf ein zerbrochenes Verhältnis, in dem Nähe nicht mehr möglich ist. Das Schweigen zwischen den Brüdern dehnt sich über die Seiten hinweg, und gerade das macht die Lektüre so beklemmend.

Der Erzählduktus wirkt wie eine Mischung aus Beichte und Distanznahme: Auf der einen Seite das Eingeständnis von Aggression gegenüber der Mutter, auf der anderen Seite der Versuch, die eigene Abwehr rational zu erklären. Die Sprache ist klar, schmucklos, fast klinisch – und gerade dadurch wird sie unbarmherzig. Wenn vom Körper des Bruders die Rede ist, von versagenden Organen, vom Hirn, das wie ein Haus Zimmer für Zimmer verdunkelt wird, dann entsteht ein Bild des Verschwindens, das kaum erträglicher sein könnte.

Bemerkenswert ist der Kontrast zwischen diesem nüchternen Register und den Passagen, in denen die Erinnerung an den jungen Bruder auftaucht. Die Szene mit dem Metzgerberuf kippt ins Tragische: Hier spricht ein Mann mit übergroßen Träumen, die er nie wird erfüllen können. Seine Fantasie reicht weit über das kleine Leben hinaus, das ihm bestimmt ist. Der Text entlarvt diese Diskrepanz als seine eigentliche Krankheit – „Mein Bruder war an seinen Träumen erkrankt.“ Dieser Satz bündelt das ganze Drama: eine Existenz, die an der Unvereinbarkeit von Sehnsucht und Realität zerbricht.

So wirkt der Text wie eine elegische Anatomie des Scheiterns – einer Familie, einer Beziehung zwischen Geschwistern, eines Lebens. Es ist kein melodramatisches Trauerspiel, sondern ein präzises, fast sezierendes Schreiben über die Vergeblichkeit und über das, was ungesagt bleibt, bis es zu spät ist.