Ein Kreis aus Kälte und Grausamkeit, gehalten von präzisen, fast zarten Sprachbildern

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kirakolumna Avatar

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Im ersten Satz ein Semikolon. Man kann Édouard Louis das nicht übelnehmen. Erstens ist er Franzose, zweitens hat er über seinen Bildungsaufstieg schon so viel geschrieben, dass man sich das Satzzeichen fast schon denken konnte. Und trotzdem bleibt da dieser kleine Beigeschmack: genau die Art von intellektueller Angeberei, vor der selbst er nie ganz gefeit ist.
Und die Semikolonnutzung geht gewohnt exzessiv weiter. Es sind viele. Dazu kommt: Louis versucht ständig, feine Beobachtungen einzubauen, präzise kleine Beschreibungen, die etwas über Figuren oder Situationen verraten sollen. Aber oft liegen sie knapp daneben. Ein Beispiel: Die Mutter ruft ungewöhnlich früh morgens immer wieder an, bis der Erzähler endlich rangeht – angeblich mit dem „Instinkt“, dass etwas nicht stimmt. Das soll wohl Intuition andeuten, wirkt aber eher unschlüssig. Entweder ist der Erzähler das Gegenteil von Hercule Poirot oder es ist einfach eine etwas holprige Formulierung.
Und doch: Es gibt immer wieder Sprachbilder, die mich mit Édouard Louis versöhnen. Weil sie gleichzeitig poetisch und präzise sind, weil sie treffen, ohne sich in Intellektualität zu verlieren. Dazu passt die Kälte, mit der er den Protagonisten zeichnet – eine Kälte, die ebenso in den Handlungen der Eltern widerhallt. Da schließt sich ein Kreis, und um diesen Kreis wird es wohl auch in dem Buch gehen. Zumindest sieht es danach aus.
Trotzdem mag ich Édouard Louis. Die Themen über die er schreibt sind wichtig und richtig. Nur steht ihm dabei manchmal seine Unsicherheit und das daraus resultierende Geltungsbedürfnis im Weg.