Schonungslos

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noiram Avatar

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Der Autor Édouard Louis beschreibt den Moment, in dem er vom Tod seines Bruders erfährt, auf eine Art und Weise, die gleichzeitig distanziert und doch so nah am Gefühl ist. Die Erzählung, wie der Erzähler keine Trauer oder Verzweiflung empfindet, sondern die Nachricht wie einen Wetterbericht aufnimmt, finde ich sehr stark. Man spürt sofort die komplizierte Beziehung zwischen den beiden Brüdern. Zehn Jahre haben sie sich nicht gesehen. Die Versuche der Mutter, die beiden wieder zusammenzubringen, die vom Erzähler aber immer wieder blockiert wurden, zeigen, wie tief die Wunden sind.
​Besonders eindrucksvoll fand ich die Rückblende, in der der Bruder des Erzählers versucht, sich zu beweisen, indem er eine neue Arbeit als Metzger ankündigt. Das Bild von ihm, wie er mit dem Metzgerpapier vor seinem Vater steht und von einer großen Zukunft träumt, ist sehr bewegend. Die Ablehnung und der Spott des Vaters, der ihm offen sagt, dass er ihn für einen Versager hält, haben mich wütend gemacht. Es ist so traurig zu lesen, wie sehr die Träume des Bruders an den Unmöglichkeiten seines Lebens scheitern. Der Suizidversuch, der dem direkt folgt, zeigt die Verzweiflung, die er empfunden haben muss.
​Der Stil ist direkt und schnörkellos. Er konzentriert sich auf die Gefühle der Charaktere und die Wunden, die ihre familiären Beziehungen geprägt haben. Es ist kein Buch, das man mal eben nebenbei liest, sondern es zieht einen in eine Welt, die traurig und schonungslos ist. Ich bin gespannt, wie die Geschichte weitergeht.