Annäherung an den toten Bruder
Édouard hatte seinen Bruder fast zehn Jahre nicht mehr gesehen. Als er von seinem Tod erfuhr, nahm er die Nachricht auf wie einen Wetterbericht. Seine Mutter hatte immer einmal vorsichtig insistiert: „Gib ihm doch noch eine Chance“. Édouard wollte nicht.
Damals kehrte der Bruder mit Anfang zwanzig nach Hause zurück. Er hatte sich Monate nicht blicken lassen. Dann stand er zur Essenszeit im Wohnzimmer und hielt ein Papier in der Hand. Er habe endlich was gefunden, werde einen neuen Beruf erlernen. Ein Metzger mit eigener Metzgerei habe ihn auf Anhieb gemocht und ihm eine Stelle angeboten. Jetzt also werde er einen Beruf erlernen, für den man sehr spezielle Kenntnisse brauche. Die Leute würden von weit hergereist kommen, um in den Genuss seiner Fleischwaren zu kommen.
Er hatte immer von Ruhm geträumt. Die Diskrepanz aus Wunschvorstellung und Realität waren die Begrenzungen aus Armut und Chancenlosigkeit, eben das, was ihn unglücklich machte. Bei Édouards Vater galt er als Versager, weil er arbeitslos war, sich prügelte und Drogen nahm, aber dieses Bild gedachte er jetzt zu ändern. Sein eigener Vater war der erste Mann ihrer Mutter. Er trank und schlug, die Mutter ließ sich scheiden und heiratete Édouards Vater. Der Vater des Bruders gründete eine neue Familie und wollte von seinem Sohn nichts mehr wissen. Dieses Gefühl, es nicht wert zu sein, arbeitete in ihm und im Laufe seines Lebens fand er immer neuen Brennstoff, um diese Wunde zu befeuern. Mit achtunddreißig war er ausgebrannt, seine Freundin fand ihn leblos in ihrer Wohnung.
Fazit: Édouard Louis ist den Lebensspuren seines Bruders gefolgt, mit dem Wunsch, sich ihm anzunähern. Er macht keinen Hehl daraus, dass er den Älteren gehasst hat und zeigt mehrere Szenen, die seine Abneigung verständlich machen. Dennoch versucht er herauszufinden, warum ihn sein Tod nicht bewegen konnte. Es entsteht das Bild eines Menschen, der ein Kindheitstrauma nicht überwinden konnte, keinerlei Hilfe erhielt und auf ganzer Linie versagte. Der Autor befragt Ex-Freundinnen, die wahlweise über seine Grausamkeiten sprachen, wenn er getrunken hatte und von einem liebevollen, gutmütigen, hilfsbereiten Mann, wenn er nüchtern war. Die dysfunktionale Familiensituation (Vater prügelt Mutter), die spätere Peergroup (Diebstahl, Drogen), hat den ehemals ruhigen Jungen, der wenige Auffälligkeiten gezeigt hatte, menschlich entarten lassen, ihn misogyn, homophob, gewalttätig und kriminell werden und voll in die Fußstapfen des Vaters treten lassen. Die ganze Geschichte hat mich tief ergriffen, weil der Autor so gut Szenen wiedergibt, mich mitreißt und fesselt. Ganz sicher aber auch, weil ich vieles davon kenne, selbst mit einer Mutter aufgewachsen bin, die ihre Tochter nicht schützen konnte, die eben auch aus einer dysfunktionalen Familie stammt und den Teufelskreis nicht durchbrechen konnte. Mir ist dieses ganze Drama aus Demütigung, Gewalt, das Gefühl der Wertlosigkeit und Abhängigkeit absolut bekannt. Édouard Louis hat dafür die treffenden Worte gefunden. Nach „Das Ende von Eddy“ und „Die Freiheit einer Frau“ fand ich diese Geschichte am stärksten aber lest selbst.
Damals kehrte der Bruder mit Anfang zwanzig nach Hause zurück. Er hatte sich Monate nicht blicken lassen. Dann stand er zur Essenszeit im Wohnzimmer und hielt ein Papier in der Hand. Er habe endlich was gefunden, werde einen neuen Beruf erlernen. Ein Metzger mit eigener Metzgerei habe ihn auf Anhieb gemocht und ihm eine Stelle angeboten. Jetzt also werde er einen Beruf erlernen, für den man sehr spezielle Kenntnisse brauche. Die Leute würden von weit hergereist kommen, um in den Genuss seiner Fleischwaren zu kommen.
Er hatte immer von Ruhm geträumt. Die Diskrepanz aus Wunschvorstellung und Realität waren die Begrenzungen aus Armut und Chancenlosigkeit, eben das, was ihn unglücklich machte. Bei Édouards Vater galt er als Versager, weil er arbeitslos war, sich prügelte und Drogen nahm, aber dieses Bild gedachte er jetzt zu ändern. Sein eigener Vater war der erste Mann ihrer Mutter. Er trank und schlug, die Mutter ließ sich scheiden und heiratete Édouards Vater. Der Vater des Bruders gründete eine neue Familie und wollte von seinem Sohn nichts mehr wissen. Dieses Gefühl, es nicht wert zu sein, arbeitete in ihm und im Laufe seines Lebens fand er immer neuen Brennstoff, um diese Wunde zu befeuern. Mit achtunddreißig war er ausgebrannt, seine Freundin fand ihn leblos in ihrer Wohnung.
Fazit: Édouard Louis ist den Lebensspuren seines Bruders gefolgt, mit dem Wunsch, sich ihm anzunähern. Er macht keinen Hehl daraus, dass er den Älteren gehasst hat und zeigt mehrere Szenen, die seine Abneigung verständlich machen. Dennoch versucht er herauszufinden, warum ihn sein Tod nicht bewegen konnte. Es entsteht das Bild eines Menschen, der ein Kindheitstrauma nicht überwinden konnte, keinerlei Hilfe erhielt und auf ganzer Linie versagte. Der Autor befragt Ex-Freundinnen, die wahlweise über seine Grausamkeiten sprachen, wenn er getrunken hatte und von einem liebevollen, gutmütigen, hilfsbereiten Mann, wenn er nüchtern war. Die dysfunktionale Familiensituation (Vater prügelt Mutter), die spätere Peergroup (Diebstahl, Drogen), hat den ehemals ruhigen Jungen, der wenige Auffälligkeiten gezeigt hatte, menschlich entarten lassen, ihn misogyn, homophob, gewalttätig und kriminell werden und voll in die Fußstapfen des Vaters treten lassen. Die ganze Geschichte hat mich tief ergriffen, weil der Autor so gut Szenen wiedergibt, mich mitreißt und fesselt. Ganz sicher aber auch, weil ich vieles davon kenne, selbst mit einer Mutter aufgewachsen bin, die ihre Tochter nicht schützen konnte, die eben auch aus einer dysfunktionalen Familie stammt und den Teufelskreis nicht durchbrechen konnte. Mir ist dieses ganze Drama aus Demütigung, Gewalt, das Gefühl der Wertlosigkeit und Abhängigkeit absolut bekannt. Édouard Louis hat dafür die treffenden Worte gefunden. Nach „Das Ende von Eddy“ und „Die Freiheit einer Frau“ fand ich diese Geschichte am stärksten aber lest selbst.