Große Literatur und der Abschluss einer Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunftsfamilie

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luisabella Avatar

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Édouard Louis ist einer dieser Schriftsteller, von dem ich jedes Buch UNBEDINGT lesen muss. Oui, ich bin ein Édouard-Fangirl ❤️‍🔥 ich finde sein Schreiben, sein Auftreten, seine Lesungen, Moderation und Beiträge so unglaublich gut, emphatisch, eloquent, intelligent, charmant. Punkt.

Der französische Autor ist bekannt für sein autofiktionales Schreiben, in dem er sich sehr intensiv, reflektierend und selbstermächtigend mit seiner Herkunft, Familie, Klasse, Zugehörigkeit und Identität auseinandersetzt. Das schafft er auf so eine brillante Art und Weise, dass es über die individuellen Aspekte hinausgeht und zur gesellschaftlichen Debatte um diese Themen beiträgt.

»Während mein Bruder sich betrank, studierte ich Philosophie, las ich Romane.
Während mein Bruder sich betrank, schrieb ich.
Während mein Bruder sich betrank, reiste ich.
Nichts kann diesen Abstand zwischen uns beschreiben. Nichts kann diesen Abstand beschreiben, aber der Abstand beschreibt alles. Der Abstand hat ein Gedächtnis. Auch wenn ich nicht an meinen Bruder dachte, vergaß ich ihn nie.« (204)

Mit seinem neusten Buch »DER ABSTURZ« ordnet er seine Erinnerungen an seinen großen Bruder und schafft daraus Literatur. Er beschreibt, wie Klassenschicksal, Gewaltspirale und Alkoholismus sich potenzieren und eine Welt in der Menschen kaputt gehen und zu früh daran sterben.

»Mein Bruder hatte schon immer die ganze Welt gewollt, seine Träume waren nie klein gewesen, sondern immer riesengroß, […] und ich glaube, es lag an der Größe seiner Träume, an der Diskrepanz zwischen seinen übergroßen Träumen und den Unmöglichkeiten, aus denen sein Leben bestand, den Begrenzungen, Armut, Geldmangel, eine Herkunft aus Nordfrankreich, all das, was sein Schicksal ausmachte, ich glaube, es lag an diesem Widerspruch, dass er so unglücklich war.
Mein Bruder war an seinen Träumen erkrankt.« (16)

Um seinen Bruder besser verstehen zu können, ordnet er nicht nur seine eigenen Erinnerungen, sondern spricht mit weiteren nahestehenden Personen seines Bruders, wie seiner Mutter, aber auch den ehemaligen Geliebten von seinem Bruder. Insbesondere vor dem Hintergrund der großen Diskrepanz zwischen Édouard und seinem Bruder (nicht zu letzt aufgrund dessen Homophobie und Gewalttätigkeit) ist es erstaunlich, wie klar der Autor analysiert und damit u.a. eine universelle Gesellschaftskritik ableitet.

Ich bin sehr gespannt, was nach diesen intensiven, autofiktionalen Werken zu seiner Herkunftsfamilie und Identität als nächstes von diesem großartigen Autor kommen wird und weiß jetzt schon: Ich werde es definitiv lesen. ❤️