Letzter Akt einer Familiengeschichte

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
downey_jr Avatar

Von

„Das Ende von Eddy“ von Édouard Louis hatte mich damals beeindruckt, seitdem habe ich fast alle seine Bücher gelesen. Allerdings fand ich, dass es langsam zu viel wurde mit der literarischen Verarbeitung seiner eigenen Familiengeschichte. Dennoch war ich neugierig auf sein neuestes Buch „Der Absturz“, mit dem er seine Buchreihe über seine Familie abschließen wollte; dieses Mal geht es um seinen Bruder.

"Ich habe meinen Bruder oft gehasst, aber ich muss sein Leben verstehen."

Édouard Louis’ Bruder ist nur 38 Jahr alt, als er stirbt, und diese Nachricht scheint den Autor kaum zu berühren, wie er selbst sagt. Die Brüder standen sich nie nahe, ihre Leben gingen in entgegengesetzte Richtungen.
Sein Bruder hatte viele Träume, wollte ein besseres Leben und beruflich etwas erreichen – und endlich vom Vater anerkannt und geliebt werden; doch er scheiterte immer wieder. Sein Leben ist geprägt von der Sucht nach Alkohol und zahllosen Frauengeschichten.

"Mein Bruder hatte schon immer die ganze Welt gewollt, seine Träume waren nie klein gewesen, sondern immer riesengroß, er hatte nie die Alltagsträume anderer Leute gehabt, ein kleines Eigenheim, ein Auto für Ausflüge am Wochenende, nein, er träumte von Ruhm, und ich glaube, es lag an der Größe seiner Träume, an der Diskrepanz zwischen seinen übergroßen Träumen und den Unmöglichkeiten, aus denen sein Leben bestand, den Begrenzungen, Armut, Geldmangel, eine Herkunft aus Nordfrankreich, all das, was sein Schicksal ausmachte, ich glaube, es lag an diesem Widerspruch, dass er so unglücklich war.
Mein Bruder war an seinen Träumen erkrankt."

Édouard Louis blickt zurück auf das Leben seines Bruders; versucht es zu analysieren und zu verstehen.

"Frage: Ab welchem Moment wird aus Handlungen ein Schicksal? Bis zu welchem Moment hätte jemand, zum Beispiel meine Eltern, die Richtung beeinflussen können, die sein Leben nahm? Ab wann ist es zu spät?"

Dabei wird die Distanz zwischen den Brüdern mehr als deutlich. Ich war oft zwiegespalten angesichts des Geschriebenen, er war oft hart in seinem Urteil – fand dann aber auch wieder versöhnliche Worte:

"Ich habe nie erlebt, dass mein Bruder sich selbst herabgesetzt hätte. Ich habe nie erlebt, dass mein Bruder an seinem Wert gezweifelt hätte. Im Gegenteil, ich habe ihn immer nur Hass auf die Außenwelt und auf andere Menschen äußern hören. Wenn man also mit Freud davon ausgeht, dass mein Bruder nicht sich selbst hasste, sondern die Realität, die ihn umgab, dann war mein Bruder nicht melancholisch; dann trauerte er. Mein Bruder trauerte um das Leben, das er seiner Meinung nach verdient hatte, das ihm aber geraubt worden war, auch wenn er nicht wusste, von wem, der Welt, der Wirklichkeit oder einem Fluch.

3: Man muss eins verstehen: Mein Bruder setzte alles daran, dem Fluch, der auf seinem Leben lag, zu entkommen. Er verfügte aber nicht über die richtigen Techniken der Flucht, er war zu sehr in seinem Dasein verstrickt, was wie gesagt dazu führte, dass er, je mehr er sich abmühte, umso tiefer im Treibsand versank."

„Warum?
Mein Bruder hatte nichts, kein Geld, keine Träume, kein Glück, der Hass war gewissermaßen alles, was er besaß. Ich glaube, dass er sich deshalb daran festhielt. Der Hass gab seinem Leben Sinn und Struktur. Ohne den Hass hatte er nichts, ohne den Hass war er niemand. Genauso, wie er den Übergriff auf Isabelle verübt hatte, um sich einer Illusion von Macht hinzugeben, um sich an seiner (vermeintlichen) Macht zu berauschen, war die Homophobie ein kläglicher Versuch, sich einzureden, dass er doch etwas besaß, eine Ideologie nämlich, die ihm Integrität und moralische Überlegenheit verlieh.
Mein Bruder traf immer nur schlechte Entscheidungen.)"

Fragmentarisch und nüchtern setzt Édouard Louis das Leben seines Bruders und dessen Absturz zusammen.
Mir fehlte hier jedoch etwas, als wäre etwas (noch) nicht gesagt worden.
Auch insgesamt lässt mich das Buch etwas zwiegespalten zurück; ich fand es nicht so gelungen wie die Vorgänger.
Nachdem nun seine Familien- und Herkunftsgeschichte ausreichend auserzählt sein sollte, bin ich jedoch schon sehr gespannt darauf, was Éduard Louis in Zukunft schreiben wird!

Vielen Dank an den Verlag für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars über NetGalley. - Die geäußerte Meinung zum Buch ist meine eigene.