Traurige, sehr dysfunktionale Familie

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jinx_75 Avatar

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Edouard Louis wird seit einiger Zeit hoch gelobt und ich war sehr neugierig auf seine Bücher. Meinen ersten Versuch mit ihm, "Das Ende der Gewalt", musste ich allerdings nach etwa einem Drittel abbrechen. Beim besten Willen konnte ich kein Gefallen an der Story und vor allem kein Interesse an den Figuren entwickeln.
Nun also "Der Absturz", unsere zweite Chance. Zuerst einmal kann ich sagen: dieses Buch habe ich zuende gelesen! Der Absturz ist, wie die anderen Bücher von Edouard Louis, als autofiktionaler Roman deklariert. Ich frage mich aber, wo die romanhaften Elemente sind. Mir kommt es vor wie eine Aneinanderreihung echter Erinnerungen. Für mich ist der Gedanke etwas irritierend, dass jemand solche - nicht gerade schmeichelhaften - Anekdoten über seine engste Familie so freimütig teilt. Daher nehme ich das Buch als Roman an, ohne den Wahrheitsgehalt zu hinterfragen. Alles andere würde sich für mich zu sehr nach Eindringen in die Privatsphäre anfühlen.

Der Erzähler berichtet vom frühen Tod seines Bruders. Episoden in der Gegenwart, die sich um die Beerdigung und organisatorische Fragen drehen, wechseln sich ab mit Rückblenden.
Wie schon bei "Das Ende der Gewalt", sind mir alle Figuren seltsam unsympathisch. Einzig der verstorbene große Bruder wird als grundsympathischer Mensch gezeichnet, der nett, hilfsbereit und seinem kleinen Bruder, dem Erzähler, ehrlich zugetan ist. Er hat große Träume, bekommt aus der Familie aber keine Unterstützung, sondern nur Hohn und Verachtung. Das eine oder andere Mal ist er auf einem guten Weg, stellt sich dann aber jedes Mal selbst ein Bein, vielleicht weil seine Angst vor Enttäuschung oder vor Versagen größer ist.
Das Buch lässt sich gut und schnell lesen. Die Figuren kamen mir teilweise überzogen holzschnittartig vor, kaum zu glauben, dass die Episoden autofiktional sind. Mit dem großen Bruder habe ich mitgelitten. Von den anderen Familienmitgliedern hätte ich allerdings auch nicht länger lesen mögen und ich war froh, als ich das Buch beendet hatte.