Über den Bruder

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timphilipp Avatar

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Der Autor ist mir neu. Nach der Lektüre dieses Romans scheint mir, dass ich bisher etwas versäumt habe, weil ich seine früheren Bücher über weitere Familienmitglieder noch nicht gelesen habe.
Hier nun erzählt er die tragische kurze Lebensgeschichte seines – namenlos bleibenden – älteren (Halb-)Bruders. Den Rahmen der Geschichte bilden die Nachricht der gemeinsamen Mutter vom Tod des Bruders im Krankenhaus aufgrund exzessiven Alkoholmissbrauchs und die gemeinsamen Vorbereitungen seiner Bestattung. Dazwischen bringt der Autor sechzehn „Fakten“ ein, die jeweils Geschehnisse aus dem Leben des Bruders erzählen. Dabei greift er zurück auf eigene Erinnerungen und Interviews mit den Ex-Freundinnen seines Bruders. Louis berichtet sachlich, ohne jedes Gefühl. Es wird deutlich herausgearbeitet, dass er keinerlei Trauer empfindet. Denn geliebt hat er seinen Bruder nicht. Und das verwundert auch nicht angesichts dessen Biografie. Er ist der Sohn eines gewalttätigen Vaters, in einfachen Verhältnissen aufwachsend. Nach der Trennung der Eltern hat der leibliche Vater nichts mehr von ihm wissen wollen und der Stiefvater hat ihn verhöhnt und klein gemacht. Schon jung gerät er an Alkohol, Drogen, Umgang mit den falschen Leuten. Er wird zum Fantasten, der große Karrieren im Berufsleben machen will, aber immer schon im Anfangsstadium scheitert. Der Autor erfährt zu seiner Verwunderung ganz neue Aspekte, hauptsächlich die, dass der Bruder abseits seiner gewalttätigen Exzesse unter Alkoholeinfluss ein lieber Mensch war. Er geht der interessanten, zum Nachdenken anregenden Frage nach, was oder wer für den frühen Tod des Bruders verantwortlich ist – Das soziale Milieu? Die Zurückweisung durch den Vater? Seine homophobe Einstellung? Ein interessanter Punkt ist, dass Louis immer wieder auf andere Bücher zurückgreift, in denen es um den Umgang mit Trauer geht, z.B. von Joan Didion oder Ludwig Binswanger.
Ich kann das Buch uneingeschränkt empfehlen.