Zerbrochene Träume

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„Mein Bruder war an seinen Träumen erkrankt.“

Die Geschichte eines Absturzes. Aber kann es überhaupt ein Absturz sein, wenn man von Anfang an ganz unten ist?

Édouard Louis’ neuer Roman beginnt mit einer Szene im Krankenhaus. Sein ältester Bruder liegt auf der Intensivstation. Die Organe haben versagt, im Magen wächst ein Tumor, die Geräte sollen abgestellt werden. Da ist der Bruder gerade mal achtunddreißig Jahre alt.

Schon früh bewegt sich sein Leben zwischen Alkohol, Drogenkonsum, Videospielen und Gewalt. In der Familie gilt er als Versager. Er behält seine Jobs nicht, schlägt seine Partnerinnen und träumt gleichzeitig von einem besseren Leben. Mehrmals erzählt er seiner Familie, er wolle einen Neubeginn wagen, Metzger werden, später Restaurateur. Aber die Träume werden von den Eltern verhöhnt. Niemand nimmt ihn ernst. Seine Träume prallen an der Lieblosigkeit der Eltern und besonders des Stiefvaters ab. Er zerbricht an den Umständen, nicht zuletzt auch an der frühen Trennung seiner Eltern.

„Frage: Ab welchem Moment wird aus Handlungen ein Schicksal?“

„Der Absturz“ ist die Geschichte einer Suche nach Glück, Liebe und Sinn, in der Tragik überwiegt. Doch es gibt auch einige wenige lichte Momente: Beispielsweise wenn Édouard seinen Bruder anruft, weil er es nicht schafft, seine Wohnung zu streichen und der Bruder sofort da ist, um zu helfen. Oder wenn der Bruder alles tut, damit Édouard am Tag der offenen Tür seiner Schule teilnehmen kann, weil er nicht will, dass der junge Bruder so endet wie er.

Und auch darin liegt Tragik: in den zwei Lebenswegen der Brüder. Denn unterschiedlicher könnten zwei Leben wohl kaum sein. Während der jüngere Brüder zur Schule geht, studiert und schließlich ein gefeierter Autor wird, findet der ältere nie einen Halt im Leben.

Nicht nur als LeserIn ist man sich diesen unterschiedlichen Bewegungen von Ab- und Aufstieg bewusst. Der Autor ist es sich sicherlich auch. Für Louis ist das Buch eine Form der Verarbeitung, eine sich Bewusstwerdung der eigenen Beziehung zum Bruder. Denn vor dessen Tod hatten sie jahrelang keinen Kontakt.

„Der Absturz“ erzählt von rauen, harten Lebensrealitäten und er tut dies in literarischer Hinsicht auf solch eine brillante Weise, dass sich mit diesem letzten Buch nicht nur die Entwicklung Louis’ als Autor abzeichnet, sondern dass man als LeserIn auch unbedingt weiterlesen möchte, trotz des Themas, trotz des Schicksals des Bruders. Wie immer also bei Louis: Ein Highlight!

Übersetzt von Sonja Finck.