Zu hoch geträumt, zu tief gefallen.

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Mit „Der Absturz“ schuf Édouard Louis ein weiteres zutiefst persönliches Buch, welches den Lebensweg seines älteren Bruders nachzeichnet. Louis, der bereits in seinem Debüt (Das Ende von Eddy) seine eigene Kindheit und das Milieu seiner Familie thematisierte, wendet sich nun einem ebenfalls belastenden Kapitel seines Lebens genauer zu: dem Absturz und frühen Todes seines Bruders.
Lange Zeit war Édouard Louis' Bruder ein Mensch voller Träume und Hoffnungen, aber diese zerschellten Stück für Stück an den strukturellen Grenzen seines Umfeldes, das ihn zu einem Produkt dessen machte. Das Leben des Bruders ist geprägt von Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit, denen er das Trinken entgegensetzt und sich flüchtet in die Betäubung des Alkohols.
Louis will seinen Bruder lernen zu verstehen, nach dessen Tod, auch wenn er ihn nie richtig gekannt hat. Eindrücklich und ohne zu beschönigen, erzählt er vom Leben des Bruders und nähert sich seinem Ende in einer Mischung aus Selbstreflexion, Gedanken- und Gesprächsprotokollen und einer Analyse dieser. Louis denkt über seine eigene Rolle und ihre Beziehung nach und ist schonungslos ehrlich. In seiner Schonungslosigkeit schon fast bedrückend, liegt die Last der Geschichte auf den Leser*innen, die sich bis zum Absturz nicht abschütteln lässt. Aber genau hier liegt die literarische Kraft: „Der Absturz“ ist keine bloße Anklage, sondern eine präzise und schmerzhafte Analyse von Herkunft, Verletzung und Verlust.
Abschließend bleibt eine Frage, die sich Édouard Louis so oder so ähnlich ebenfalls stellt: Sind wir das Produkt unserer eigenen Handlungen, Gedanken und Träume oder sind diese durch unser Umfeld, unsere Sozialisation so vorherbestimmt, dass wir an ihnen zu Grunde gehen, wenn sie nicht mit unseren äußeren Rahmenbedingungen vereinbar sind?