Als Roman Dresdens im Jahr 1944/45 ein atmosphärisch starkes Buch, als Kriminalroman leider schwächer

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An einem düsteren Novembertag des Jahres 1944 wird in Dresden in einer Bootshalle die brutal zugerichtete Leiche einer jungen Frau gefunden. Kriminalinspektor Max Heller kämpft zu dieser Zeit beinahe auf verlorenem Posten; zahlreiche Mitarbeiter sind zur Wehrmacht eingezogen und seinem einzigen Spezialisten für Spurensicherung steht der Marschbefehl an die Front kurz bevor. Die Menschen ahnen das bevorstehende Kriegsende und fürchten zugleich den Einmarsch der Russischen Armee, Gerüchte machen die Runde. In diese unselige Verbindung aus Auflösung der öffentlichen Ordnung und diffusen Ängsten in der Bevölkerung platzt der Leichenfund. Augenblicklich schießen Gerüchte über das Mordopfer ins Kraut. Die Tote war Krankenschwester. Unter dem Personal des Krankenhauses und unter den Menschen, die auf der Flucht vor dem Frontverlauf auf dem Gelände Station machen, lässt sich die Tat nicht lange verheimlichen. Als eine weitere Leiche gefunden wird, weist das Dresdens letzten engagierten Ermittler auf einen perversen Serienmörder hin.

Heller hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, er muss demnach schon vor der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert geboren und um die 50 Jahre alt sein. Von beiden Söhnen an der Front haben die Hellers schon lange nichts gehört. Der Ermittler ist kein überzeugter Nationalsozialist und im geforderten martialischen Gehabe eher nachlässig. Heller weiß, dass er sich auf seinem Posten damit in Gefahr bringt, ganz besonders, weil sein direkter Vorgesetzter Rudolf Klepp ein SS-Mann ist und nicht aus dem Polizeidienst stammt. Klepps Ziele bleiben lange diffus – und das, obwohl während des Nationalsozialismus Kapitalverbrechen möglichst verheimlicht wurden, um die Illusion aufrechtzuerhalten, eine Diktatur könnte den Menschen Sicherheit vor Gewalttaten durch „den großen Unbekannten“ garantieren.

Fazit
Mit vielen kleinen Hinweisen, die jeder für sich unwichtig scheinen mögen, erweckt Frank Goldammer die Stimmung in den letzten Kriegsmonaten zum Leben. Von der Lebensmittelversorgung auf Marken, dem Mangel an Heizmaterial, der Angst, denunziert zu werden bis zum Schlafmangel durch die ständigen Bombenalarme und das anschließende Warten im Luftschutzkeller. Atmosphärisch besonders stark die Bombardierung Dresdens in der Nacht des 13. Februar 1945. Ort und Zeit w i r k e n sorgfältig recherchiert; dennoch fehlte mir die Identifikation mit der Hauptfigur. Auch andere Ermittler in historischen Krimis wirken ernst und zurückhaltend wie Heller; dennoch vermisse ich hier als Tüpfelchen auf dem I eine intensivere Interaktion zwischen Heller und seinen Kollegen, um mit dem Mann warmwerden zu können.

Der Kriminalfall ist zwar der Aufhänger und ein Ermittler die Hauptfigur, doch die Stadt und die Kriegsereignisse standen im Mittelpunkt des Buches. Spannend fand ich Goldammers Roman, ich wollte unbedingt wissen, wie die Handlung weitergeht; aber nicht die Krimihandlung hat diese Spannung erzeugt. Unglaubwürdige Personendarstellungen haben mir m. A. zu früh Hinweise auf den Täter gegeben; die Aufklärung des Falls war danach reizlos. Dem Roman mangelt es an Fingerspitzengefühl für die Epoche und für die Denkweise von vor 1900 geborenen Personen. Eine Reihe unglaubwürdiger Details benötigen die Überprüfung durch Zeitzeugen; dem Buch fehlt ein sorgfältiges Lektorat. Wer sich mit der Zeit des Nationalismus befasst hat, wird mit historischen Romanen in Light-Version wie diesem sicher nicht glücklich. Als Roman über Dresden im Winter 1944/Frühjahr 1945 hätte ich dem Buch 4 von 5 Sternen gegeben, als Kriminalroman nur 3 ½ Sterne.

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ZItat
"Heller wandte sich ab. Eine Welle aus Übelkeit und Angst breitete sich in ihm aus. So wollte er nicht sterben. Er wollte gar nicht sterben.
Da sah er einen Gullydeckel. Vielleicht könnte er sich darin verstecken, dachte er, kroch hin, schob mit den Füßen einen Mauerbrocken weg und griff mit den Fingern in die Löcher. Dann schrie er auf. Aus der Kanalisation fauchte kochende Luft und verbrühte ihm die Finger." (Seite 170)