fantasievoll, verzaubernd aber auch verwirrend

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»An den folgenden Tagen durchsuchten sie die restlichen Felswände und fanden nichts. Hens war sich sicher, dass die gibraltarische Lichtnelke ausgestorben war. Peter wusste, dass sie es nicht war. Sie hatten beide ihre eigene Erinnerung. Sie hatten beide ihre eigene Wahrheit.«
– „Der Blumensammler“ S.96

Die Ferienlektüre will ja immer ganz sorgfältig ausgewählt werden, das Buch soll spannend sein, nicht zu dick und schwer und irgendwie auch noch zu allen möglichen Lesestimmungen passen. Das ist nicht ganz einfach. Für meinen Urlaub in Norwegen habe ich mir darum gedacht, dass seltene Blumen doch perfekt zur grandiosen Natur dieses Landes passen. Und irgendwie hat es das auch, obwohl ich beinahe auf die Nase gefallen wäre mit meiner Entscheidung.


Drei Männer, drei Geschichten
Mit feinen Worten und farbenfrohen Bildern erzählt David Whitehouse drei Geschichten von drei Männern. Jene von Dove, ein ehemaligen Findelkind, das nun in der Londoner Notrufzentrale arbeitet. Jene von Professor Cole, der den Datenschreiber des „vergessenen Fluges PS570“ findet, aber eigentlich lieber bei seiner Frau wäre. Und jene von Peter Manyweathers, einem Tatortreiniger, der in einem alten Bibliotheksbuch einen Liebesbrief mit sechs seltenen Blumen entdeckt und beschliesst diese zu finden.
Von Anfang an ahne ich, dass all diese Geschichten etwas miteinander zu tun haben, irgendwie zusammen gehören. Und das tun sie am Ende auch, aber bis ich als Leserin einigermassen hinter diese Erzählperspektiven blicke, dauert es einen Moment. Das ist auch gleich mein grösster Kritikpunkt an diesem Buch. Bis etwas über die Hälfte des Buches verwirrten mich diese drei Perspektiven nämlich ziemlich. Ich konnte schlecht einordnen, wie die Geschehnisse zeitlich verteilt sind. Bis auf Peters Geschichte, die ganz klar in den 80ern spielt, erhalten wir Leser und Leserinnen keinen zeitlichen Anhaltspunkt. Natürlich lassen sich aus den Beschreibungen und dem Gebrauch von so einigen technischen Geräten gewisse Rückschlüsse ziehen. Dennoch war für mich eigentlich bis zum Ende unklar, ob der Handlungsstrang um Professor Cole nicht etwa doch einige Jahre in der Zukunft liegt. Diesbezüglich hätte ich mir etwas mehr Abgrenzung gewünscht, den ein oder anderen Hinweis mehr hätte mir die Lektüre erheblich erleichtert. So aber kämpfte ich mich durch die erste Hälfte der Geschichte und war nahe dran am Aufgeben, bis dann die Handlung an Fahrt auf nahm und mich die zeitliche Einordnung etwas vergessen liessen.

Ein Tanz der Erinnerungen
»Als Dove am Kanal entlang zur Arbeit geht, fällt ihm plötzlich das Moorveilchen wieder ein. Es taucht aus dem Nichts auf, wie es Erinnerungen eben tun – ein Funke aus der Vergangenheit, der ins Jetzt hinüberglimmt.
[…] Doch Dove weiss nicht das Geringste über Blumen.«
– „Der Blumensammler“ S.14

Überzeugen konnte mich das Buch dafür mit seinem Tanz mit der Realität und Erinnerungen. Immer wieder wird Dove von unerträglichen Kopfschmerzen heimgesucht und dabei zeigen sich ihm Erinnerungen, die nicht die seinen sein können. Plötzlich weiss er Dinge über seltene Blumen, die ihn nie interessiert haben und kennt Menschen in und auswendig, die er nie zuvor in seinem Leben getroffen hat.
An diesem Punkt wissen die Leser und Leserinnen mehr als Dove, denn ziemlich schnell ist klar, von wessen Erinnerungen Dove heimgesucht wird. Das Wieso und Warum bleibt jedoch bis ganz zum Ende hin im Dunkeln, lässt langsam Spannung aufkommen. Und so fliege ich ab der Hälfte des Buches nur so durch die Seiten und bewundere David Whitehouse’s Gabe, mit Worten umzugehen. Was im ersten Teil noch etwas bemüht und verwirrend wirkte, ist nun geprägt von einer Leichtigkeit und Verspieltheit, die seines gleichen sucht. Mit zauberhaften und poetischen Worten führt uns der Autor durch seine Geschichte, entwickelt seine Protagonisten, lässt sie Schicksalsschläge durchleben, die Liebe erfahren und bittere Erkenntnisse sammeln.
Ja, auch die Charaktere, die so fein und detailliert gezeichnet sind, die sich nach und nach entfalten und entwickeln, zum Guten wie auch zum Schlechten, sind ein grosser Pluspunkt dieses Romans.

Wenn nur das Ende nicht wäre
Ja, wenn nur dieses Ende nicht wäre… Und dabei habe ich überhaupt nichts gegen Happy Enden einzuwenden, ich mag sie grundsätzlich sogar sehr gerne, nur wurde hier ein Löffel Schmalz zu viel mit eingerührt. Und dabei meine ich jetzt nicht die eigentümliche Verbindung die zwischen Peter und Dove besteht. Auch dass die Geschichte um den „vergessenen Flug“ geklärt wird, lasse ich noch durch gehen. Nein, was mir wirklich den Rest gab, war die Lüftung des Geheimnisses um den Briefschreiber, jenen Brief den Peter im Bibliotheksbuch findet und der ihn zur Reise zu den Blumen inspiriert. Auch wenn es möglicherweise zu den fantastischen (im Sinne von Fantasy) Elementen des Buches passt, war es für mich eine Portion Kitsch zu viel, als müsste David Whitehouse noch einmal richtig auf die Tränendrüse drücken. Dieser Schuss ging für meinen Geschmack gehörig nach hinten los.

Fazit
Der Blumensammler von David Whitehouse ist ein Buch mit Ups und Downs. Während die erste Hälfte wirklich zäh vor sich hin tröpfelt und durch die unterschiedlichen Erzählperspektiven und Zeitebenen auch ganz schön unübersichtlich ist, reisst die zweite Hälfte umso mehr mit. Langsam erschliessen sich erste Zusammenhänge, die Geschichte gewinnt an Tempo und wird spannender, bis sich am Ende alles auflöst und zum Guten wendet. Wobei mir persönlich hier auch mit etwas zu voller Kelle geschöpft wird.
Trotzdem dürfte Der Blumensammler nicht nur für Blumenfreunde*innen eine tolle und kurzweilige Lektüre sein. Allerdings sollten sich alle, die sich für dieses Buch entscheiden, bewusst sein, dass ab und an auch etwas skurrile und ungewöhnliche Dinge geschehen. Aber lasst euch davon nicht abschrecken.