Zwischen den Zeilen ist in diesem Buch so viel mehr…

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Der Roman „Der Brand“ von Daniela Krien hat in mir beim Lesen so viele verschiedene Gefühle ausgelöst, wie schon lange kein Buch mehr: Sympathie und Abneigung, Empathie und Missbilligung, Annahme und Ablehnung, Freude und Frustration, Wiedersehenfreude und Überdruss. Und dabei haben die beiden Protagonisten in ihrer Außenwirkung ihre Gefühle unter Kontrolle, genau wie es sich in unserer Gesellschaft erwartet wird.

Die Handlung des Romans ist leicht zusammen zu fassen. Ein Ehepaar, welches seit 30 Jahren verheiratet ist, plant auf Grund der Corona-Krise ihren Urlaub in einer abgelegenen Hütte in Deutschland. Einen Tag vor ihrer Ankunft ist die Hütte abgebrannt. Gleichzeitig hat ein enger Freund der Familie einen Schlaganfall und die beiden Eheleute werden gebeten während seines Rehaaufenthalts auf sein Landhaus aufzupassen. So wird der geplante Wanderurlaub in den Bergen aufs Land in der Uckermark verlegt. Soweit der Einstieg. Der Kern des Romans ist die Schilderung von jedem Tag der drei Wochen Aufenthalt in der ländlichen Gegend, in der es kaum Ablenkung von Außen gibt. Die Tage plätschern dahin und einzig die Besuche der Kinder und die Aussicht der Genesung des Freundes bringen Dynamik in die Geschichte. Der Schluss fehlt und somit ist das Ende offen.

So unspektakulär, wie die Handlung ist, so spektakulär ist die psychologisch genaue Darstellung der Figuren in einer wunderbar bildhaften und poetischen Sprache. Neben dem kurzen Anreißen vieler gesellschaftlich relevanter Themen werden intensiv das Gelingen oder Misslingen einer Ehe und vor allem Eltern-Kind-Beziehungen und ihre Auswirkungen durch drei Generation beleuchtet. Fragen, die sich stellen, sind: Was macht eine gute oder schlechte Bindung in der Kindheit mit einem erwachsenem Menschen? Wieviel Sprachlosigkeit tut einer Ehe gut? Wie wichtig sind gemeinsame Ansichten und sexueller Gleichklang? Wo liegt der Unterschied zwischen Ost und West, auch nach 30 Jahren Wiedervereinigung? Die Antworten werden angedeutet, leise gedacht, und sind oft nur zwischen den Zeilen zu finden– in großen und kleine Bildern, in Illusionen und Fata Morganas mit kunstvoller Sprache gezeichnet, bunte oder in schwarz/weiß. Würde man die Aussagen in diesem nebulösen Raum zwischen den Zeilen mitzählen, würde man auf doppelt so viele Wörter kommen. In diesem Stil ist auch der Titel gewählt. Ein Brand ist ein mächtiges Bild und damit wird nicht nur die abgebrannte Hütte für den Urlaub erfasst. Es brennen die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Hitzewallungen der Wechseljahre, eine langersehnte Zigarette, Dresden in der Bombennacht 1945, dunkle Begierden, die Fragen nach dem Vater und der Zukunft.

Den Lesegenuss hat mir einzig der Fokus in dem Klappentext getrübt. Meine Erwartung war eine intensive Auseinandersetzung mit einer strauchelnden Ehe. Es hat etwas gedauert, bis ich beim Lesen meine Erwartungen überwinden und mich ganz auf dieses besondere Buch einlassen konnte. Das war umso schwieriger, weil die Figuren allesamt recht unsympatisch sind. Aber ehrlich, wer von uns ist in seinem tiefen Abgrund mit all den Ängsten, Sorgen, Verletzungen und Wünschen durch und durch sympathisch? Wir verstecken alle Seiten vor der Außenwelt, die nicht mal wir selbst sehen möchten. Daniela Krien traut sich genau diese Winkel der Seele zu beleuchten.