Bewegende Romanbiografie einer jungen tamilischen Ärztin

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Die 16-jährige Tamilin Sashikala/Sashi paukt 1981 in Jaffna/Sri Lanka für die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium. Der älteste ihrer vier Brüder studiert bereits Medizin und wird bald als Arzt arbeiten, der zweite Bruder Seelan will Ingenieur werden. Sashis Vater ist als Landvermesser ständig beruflich abwesend. Gemeinsam mit dem Nachbarjungen K, der schon als Kind medizinisches Talent zeigte, bilden die jungen Leute eine eingeschworene Gemeinschaft. Die von der Icherzählerin Sashi in dringlichem Ton an ein unbekanntes Du gerichtete Erzählung vermittelt, dass Sashi trotz Fleiß und deutlicher Begabung härter als ihre Brüder um ihr erhofftes Studium kämpfen muss. Die Eltern finanzieren zwar den Paukunterricht zur Prüfungsvorbereitung bei „Rajan Sir“, Sashi muss allerdings mehr Hausarbeit leisten, während ihre Brüder die Männerarbeit, wie Bewässerung des Gartens, unter sich aufteilen können. Die religiösen Normen der durch die Sprache Tamil definierten Gemeinschaft bestimmen Frauen als besonders verletzbar. Sie werden jedoch nicht durch die Gemeinschaft beschützt, sondern „verschulden“ Verletzungen ihrer Unversehrtheit durch ihr Verhalten. Gewalt durch Männer dagegen wird von der Community passiv erlitten.

Der Bürgerkrieg der Tamil Tigers, die 1983 bis 2009 für die Unabhängigkeit des von Tamilen dominierten Nordens und Ostens Sri Lankas kämpften, kündigt sich an, als Fahrrad fahrende Männer als Terroristen verdächtigt werden und Sashis Vater daher seinen Söhnen das Radfahren verbietet. Sashi lernt indessen zunächst beim verehrten Lehrer Rajan Sir; im Studium wird die angesehene Anatomieprofessorin Anjali Sashis Vorbild und Freundin. Der Bürgerkrieg holt Sashi ein, als sie noch im ersten Studienjahr gedrängt wird, im Feldlazarett der Tigers Mitglieder u. a. Personen zu behandeln, die ihre Verletzungen nicht im Krankenhaus öffentlich machen wollen. Während Sashi streng das ärztliche Ethos einhält, zu heilen und nicht zu schaden, kann sie die Kriegsverbrechen der Rebellen an der Zivilbevölkerung nicht übersehen. Ihre Distanz zu ihrer Religion und zur Bewegung wächst, als sie realisiert, dass weder Religion noch Rebellen das Kastensystem und die Stellung von Frauen verändern werden. Die Verhaftung von 10 000 Minderjährigen führt schließlich zur Gründung einer Mütterbewegung, die ausdrücklich betont, unpolitisch zu sein. Als Sashi zivile Opfer behandelt und Kopien akribisch recherchierter Dokumentationen dieser Gewalttaten auftauchen, muss sie ihre Tätigkeit als Ärztin und ihre eigene Sicherheit im Land infrage stellen. Von Anjali lernt sie, Berichte sorgfältig durch Zeugenaussagen zu verifizieren und Beweise zu sichern, ein Talent, das inzwischen wichtiger zu sein scheint als ihre chirurgischen Kenntnisse.

Zwanzig Jahre später arbeitet Sashi als Ärztin in New York. Ihre eigene Dokumentation wird die Ereignisse bezeugen und im Regal neben der Anjalis stehen.

Fazit
V. V. Ganeshananthan schreibt im Nachwort, dass ihr Roman in Personalunion mit ihrer Figur Sashi verfasst wurde und sie 18 Jahre daran gearbeitet hat. Das Ergebnis ist die bewegende Roman-Biografie einer jungen Ärztin, die sich im Verlauf der historischen Ereignisse in Sri Lanka zur Dokumentation eines Bürgerkriegs wandelt. Die Zerstörung ganzer Familien und der Lebensgrundlage einer gesamten Generation lassen Sashi an ihrer Vereinnahmung durch die Bewegung zweifeln. Die Verknüpfung von beruflichen, privaten und politischen Ereignissen, rückblickend aus der Ichperspektive erzählt, liest sich flüssig, bewegend und glaubwürdig.