Anspruchsvoller Roman mit interessantem zeitgeschichtlichen Hintergrund

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INHALT
Vor dem Kriegseintritt der Amerikaner brodelt es in den Straßen New Yorks. Antisemitische und rassistische Gruppierungen eifern um die Sympathie der Massen, deutsche Nationalisten feiern Hitler als den Mann der Stunde. Der deutsche Auswanderer Josef Klein lebt davon relativ unberührt; seine Welt sind die multikulturellen Straßen Harlems und seine große Leidenschaft das Amateurfunken. So lernt er auch Lauren, eine junge Aktivistin, kennen, die eine große Sympathie für den stillen Deutschen hegt. Doch Josefs technische Fähigkeiten im Funkerbereich erregen die Aufmerksamkeit einflussreicher Männer, und noch ehe er das Geschehen richtig deuten kann, ist Josef bereits ein kleines Rädchen im Getriebe des Spionagenetzwerks der deutschen Abwehr. Josefs verhängnisvoller Weg führt ihn später zur Familie seines Bruders nach Neuss, die den Aufstieg und Fall der Nationalsozialisten aus der Innenperspektive erfahren hat, und letztendlich nach Südamerika, wo ihn Jahre später eine Postsendung aus Neuss erreicht. Deren Inhalt: eine Sternreportage über den Einsatz des deutschen Geheimdienstes in Amerika.

(Quelle: Klett Cotta-Verlag)

MEINE MEINUNG
In ihrem historischen Roman „Der Empfänger“ widmet sich die deutsche Autorin Ulla Lenze sehr eindrücklich einem zeitgeschichtlichen Thema, über das bei uns in Deutschland sehr wenig bekannt und völlig in Vergessenheit geraten ist. Hierbei handelt es sich um die rechtsradikalen Strömungen in den Vereinigten Staaten ab den frühen 1930erJahren, die Infiltration der USA durch deutsche Agenten während des 2. Weltkriegs und die Bildung eines Spionagenetzwerks der deutschen Abwehr.
Ulla Lenze erzählt die faszinierende Lebensgeschichte von Josef Klein, einem jungen Mann aus dem Rheinland, der 1925 der Armut und den chaotischen Verhältnissen der Weimarer Republik entflieht und nach Amerika ausgewandert ist, in New York kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs vom Geheimdienst der Nazis rekrutiert und schließlich vom FBI enttarnt wird. Nur haarscharf entgeht er der Todesstrafe auf dem elektrischen Stuhl, wird interniert und später ins Nachkriegsdeutschland abgeschoben.
Lenze ist ein anspruchsvoller, hervorragend recherchierter historischer Roman gelungen, der mich bald völlig in seinen Bann gezogen hat. Faszinierend finde ich zudem, dass die Geschichte auf wahren Begebenheiten basiert und in Teilen die Lebensgeschichte ihres Großonkels wiedergibt.
Gekonnt lässt Lenze uns gemeinsam mit ihrem Protagonisten und jungen Exilanten Josef Klein in die fesselnde, quirlige Metropole New York jener Zeit und in eine Atmosphäre voller Kontraste eintauchen. Sehr anschaulich fängt sie das faszinierend- lebendige Flair der verschiedensten Kulturen und Ethnien ein, lässt uns die Tristesse der Emigranten-Ghettos erahnen, das harte Alltagsleben, die Sorgen und Nöte der kleinen Leute sowie die durch unterschiedliche, politische Strömungen aufgeheizte Stimmung in den Vierteln. Auch äußerst interessante Details zur deutschen Kultur der Deutschamerikaner in New York oder dem Treiben der nationalsozialistischen Organisation - dem Amerikadeutschen Bund hat Lenze geschickt in die Handlung eingewoben.
„Der Empfänger“ ist kein fesselnder Spionagethriller mit rasanter Story. Dennoch ist es der Autorin hervorragend gelungen, über die psychologische Entwicklung ihrer facettenreichen Hauptfigur Spannung aufzubauen, denn immer mehr beschäftigt den Leser die Frage, wieso sich dieser eher freiheitsliebende, weltoffene, unpolitische Mensch in die Arbeit der deutschen Abwehr hat verstricken lassen und wie er als Amateurfunker zum Handlanger der Nazis werden konnte. Mit viel Feingespür hat Lenze die faszinierende, ambivalente Persönlichkeit ihrer Hauptfigur mit all ihren Ecken und Kanten herausgearbeitet. Nach und nach lernen wir diesen Josef Klein in verschiedenen Lebensabschnitten, Zeitebenen und Schauplätzen kennen. In unterschiedlichen Episoden beleuchtet die Autorin sein Leben während der Nazizeit in New York als Joe, während seiner Zwischenstation bei seinem Bruder im kargen Nachkriegsdeutschland als Josef und nach seiner Auswanderung nach Südamerika in den frühen 1950er Jahren auf seinen weiteren Stationen als Don José in Buenos Aires unter den Exildeutschen und in Costa Rica. Ein eigenwilliger, eher passiver Zeitgenosse, der sich ohne konkrete Lebensziele treiben lässt – ein Exilant, der sich zwischen den Welten und Kulturen bewegt, aber nirgendwo richtig angekommen und ohne Heimat ist, sich überall fremd fühlt – eine letztlich tragische Figur. Je mehr wir über ihn mit all seinen Widersprüchen, unglücklichen Verstrickungen und sein Schicksal erfahren, desto mehr macht sich eine Beklommenheit breit. Sympathien und großes Mitgefühl bringt man diesem feinfühligen, etwas naiv wirkenden Menschen entgegen, der sich hat ködern lassen und als ein eher kleines Rädchen in die Fänge der großen Weltpolitik gerät. Sein opportunistisches Handeln kann man zwar nachvollziehen jedoch nicht gutheißen, denn hierdurch hat er sich auch zu einem Täter gemacht und wissentlich die Aktivitäten gedeckt. So begegnet man Josef Klein letztlich mit einer gewissen Distanz und gemischten Gefühlen, denn sein Innenleben und seine Motive bleiben einem bis zum Ende größtenteils fremd und unergründlich, was sicherlich von der Autorin gewollt ist und der Persönlichkeit dieser Figur durchaus gerecht wird.
Im Anhang des Romans findet sich für alle interessierten Leser*innen zur weiteren Vertiefung in das interessante Thema noch eine ausführliche Zusammenstellung von empfehlenswerten Lektüren, die die Autorin auch als Quellen genutzt hat.

FAZIT
Ein anspruchsvoller, hervorragend recherchierter historischer Roman, der mit einer faszinierenden und fesselnden Geschichte über eine tragische Figur, die auf wahren Begebenheiten basiert. Sehr lesenswert!