Ein Mann auf der Flucht … vor sich selbst?

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evelynm Avatar

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Bevor Ulla Lenze mit ihrem Roman beginnt, stellt sie klar, dass sie zum Teil die Lebensgeschichte ihre Großonkels Josef Klein erzählt. Für mich ist es immer interessant keine rein fiktiven, historischen Romane zu lesen, weshalb ich mich gerne mit Josef Klein in die USA zu Zeiten des 2. Weltkriege entführen ließ. Der Roman erstreckt sich auf die Zeit zwischen Februar 1939 bis Juni 1953. Um die Geschichte zeitlich und geografisch richtig erfassen zu können, hat die Autorin diese Informationen in ihre Kapitelüberschriften gepackt. Trotzdem waren die Zeitsprünge eine kleine Herausforderung beim Lesen und Erfassen der Geschichte.

Noch ehe der 2. Weltkrieg ausbricht und die ganze Welt mit Gewalt überzieht, wandert der aus dem Rheinland stammende Hobbyfunker Josef Klein im Jahre 1925 nach New York aus. Hier schlägt sich der introvertierte und etwas naive Mann mit einem Job in einer Druckerei durch und lebt in einfachen Verhältnissen, doch recht zufrieden mitten in Harlem. Hier geht er auch seiner Leidenschaft der Amateurfunkerei nach und lernt dabei die junge Lauren kennen.

Die Arbeit in der Druckerei bringt ihn des Öfteren mit politisch engagierten Gruppen, wie „America for white people“ in Berührung und er versucht, die Parolen der Flugblätter zu übersehen. Er interessiert sich nur wenig für Politik und übersieht wissentlich die Sympathien diverser deutscher Auswanderer für Adolf Hitler und seine Propaganda.

Eines Tages suchen ihn zwei Unbekannte auf und bieten ihm eine Tätigkeit als Funker an. Er soll verschlüsselte Daten an Geschäftsleute in Deutschland übermitteln. Ganz leise schleicht sich bei ihm Unbehagen ein, als er sich bewusst wird, dass er benutzt wird und in Gefahr gerät. Doch er findet keinen Weg aus seiner Misere. Sogar als Lauren ihn darauf anspricht, versucht er, den Kopf in den Sand zu stecken und wartet ab.

Josefs Geschichte umspannt auch seine Zeit in Deutschland, als er im Jahre 1949 zu seinem Bruder Carl und dessen Familie nach Neuss zurückkehrt. Leider sind sich die beiden Brüder sehr fremd geworden und Josef fühlt sich in seiner alten Heimat nicht mehr wohl. Carl treibt die Frage um, was sein Bruder in Amerika getrieben hat, um dort in einem Gefängnis zu landen. Schließlich schafft es Josef, sich aus seinem alten Leben zu verabschieden und letztlich in Costa Rica ein neues Leben zu beginnen.

Die starke Aussagekraft des Covers wurde mir sehr schnell bewusst. Das Schwarz-Weiß-Foto eines Mannes in Anzug mit Hut verschwindet hinter Dreck und lässt nur einen ganz kleinen Ausschnitt seines Gesichtes erkennen. „Der Empfänger“, also Josef Klein, blieb lange Zeit im Verborgenen und war nur ein kleines Rädchen in den Machenschaften der Nazis, deren Arm bis in die USA reichte und dort willfährige Unterstützer fand. Seine Geschichte war nicht nur spannend, sondern auch sehr interessant zu lesen.
Nachdem ich mit den zeitlichen Sprüngen klar kam, hat sich ein gut recherchierter Blick auf die „deutsche Gesellschaft“ und Unterstützung des Naziregimes von den USA aus ergeben. Mir war nicht bekannt, dass eine beachtliche Gruppe an Unterstützern von Amerika aus verschlüsselte Botschaften an Nazi-Deutschland gefunkt haben. Es ist schon erschreckend zu lesen, wie schnell ein einfacher und unbescholtener Mann wie Josef in eine Geheimdiensttätigkeit hineingezogen wurde.
Josef kam mir naiv und hilflos vor, so allein in NY. Die Sprünge in Josefs Vergangenheit lasen sich wie die Niederschrift eines Ich-Erzähler - als würde Josef sich in bestimmten Situationen an die Vergangenheit erinnern, sich in die Vergangenheit zurückversetzt fühlen. Das hat seine Lebensgeschichte sehr lebendig gemacht und auch persönlich. Der meist nüchterne Schreibstil war leicht zu lesen und hat den historischen Hintergründen genug Raum gegeben, ohne dabei zu sehr darauf fokussiert zu sein. Zwischendurch hatte ich das Gefühl, Josef ganz nah zu sein, doch dann entzog er sich wieder. Diese Zerrissenheit in seinem Charakter und auch seinen Handlungen, die sich stets an die momentane Situation angepasst haben, kommen sehr klar zur Geltung. Wie Josef sich zum Aufpolieren seines Egos plötzlich als Funker für die Deutschen mitten in New York wiederfindet, ist sehr eindringlich und realistisch beschrieben. Die Rückblenden in Joe/Josefs Leben sind schon emotionaler, dennoch so knapp und kurz gehalten, wie es zu seinem Wesen passt. Lauren blieb in der Geschichte sehr geheimnisvoll und zeitweise hatte ich den Verdacht, dass sie auf Josef angesetzt wurde. Was Josefs Bruder Carl und dessen Frau betrifft: die beiden sind sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Edith wirkt blass, verletzlich und devot. Doch es gibt Momente, da blitzt ihre Kraft durch. Carl ist ein strenger, etwas weltfremder Mann, der mir nicht sympathisch, aber auch nicht wirklich unsympathisch ist. Ihn wusste ich nicht so recht einzuordnen. Einerseits denkt er bei Josefs Rückkehr nach Deutschland an seine Pflicht als Bruder, andererseits geht er davon aus, dass Josef mit den Taschen voller Geld zurückkehrt und ihm unter die Arme greift. Dies wiederum zeigt, wie sehr sich die Vorstellung von den deutschen Auswanderern in New York zur Wirklichkeit unterscheidet. So wie Carl dachten wohl viele Deutsche, die in ihrem Land blieben und den Krieg mit all seinen Schrecken und Gräueln überlebt haben: wer in die Vereinigten Staaten gegangen war, hatte sein Glück gemacht. Leider entsprach das ganz und gar nicht der Realität. Ulla Lenze hat diese Diskrepanz ganz hervorragend ausgearbeitet, wie auch die Beziehung der beiden Brüder.

Die „Lebensbeichte“ eines Mannes, der aus Naivität und Hilflosigkeit in eine gefährliche Geheimdiensttätigkeit der Deutschen in den Vereinigten Staaten rutscht, hat mir sehr gut gefallen und meinen Horizont erweitert. Ich bekam Einblicke in die Spionagetätigkeit und den Glauben der emigrierten Deutschen an die Richtigkeit des deutschen Vorgehens in Europa. Auch die Ausgrenzung Deutscher in den USA taucht als Thema in diesem Roman auf und zeigt, dass sie es nicht leicht hatten. Ich bin von der Geschichte beeindruckt und die seltsame Stimmung, die über dem Erzählten liegt.