Im Visier der Weltmächte

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
amara5 Avatar

Von

Ulla Lenze nimmt sich in ihrem neuen Roman ein Stück bisher größtenteils unerforschter deutscher Geschichte an - inspiriert von schriftlichen Überbleibseln ihres Großonkels beleuchtet sie die Geheimdiensttätigkeiten von Nationalsozialisten im New York der 1930er-Jahre.

Hauptfigur Josef wandert in den 1920er-Jahren von Deutschland in die USA aus, sucht das Glück in der Fremde, weg vom bedrückenden Elternhaus. Er arbeitet in einer Druckerei, geht abends aus, genießt die amerikanische Jazzkultur und hat in seiner kleinen Wohnung ein Hobby: mit einem selbstgebauten Funkgerät nimmt er weltweit Kontakt mit anderen Funkamateuren auf. Sein Geschick darin und spätere Kontakte verhelfen ihm zu einem neuen Job: er soll für eine Firma Zahlencodes nach Deutschland funken. Dass er damit in die Spionagetätigkeiten der Nationalsozialisten gerät, merkt er zu spät oder will es nicht wahrhaben - er steckt nun mitten in den Aktivitäten kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Später wird Josef noch aus Angst vor der Todesstrafe und durch den Verrat seiner Freundin zum Doppelagenten für das FBI - was ihn aber nicht vor einer späteren Haftstrafe schützt.

1949 wird er nach fünf Jahren Gefängnis nach Deutschland abgeschoben, wo er bei seinem Bruder Carl unterkommt - doch auch hier findet er keine Ruhe, da ihn die Fragen nach seiner Vergangenheit und der Argwohn des Bruders nicht loslassen. Er wankt zwischen Abmilderungsversuchen und Schuldeingeständnissen. War er Täter, Kollaborateur oder Verräter?

Aufwendig recherchierte historische Details verdeutlichen die gesellschaftliche und politische Situation jener Zeit in New York 1939, im Nachkriegsdeutschland und in Südamerika in den 1950er-Jahren - denn diese Städte werden zu lebendig aufblühenden Handlungsschauplätzen im Roman, der nicht chronologisch erzählt wird. Die einzelnen Kapitel sind als Rückblicke datiert und geografisch verortet. Ulla Lenze erzählt dabei in einer dichten und packenden Prosa. Die aufgeladene Stimmung in New York kurz vor Kriegsausbruch und das ärmliche Nachkriegsdeutschland fängt sie nuanciert und präzise ein. Auch das Zwischenmenschliche bei dem Zusammentreffen der unterschiedlichen Brüdern ist intensiv. Ulla Lenze hält die Dialoge und Sätze knapp, kein Wort ist zuviel.

Doch der Charakter Josef, der erst zu Joe, später dann zu José wird, blieb für mich als Leser emotional farblos und nicht greifbar - wie ein Fähnchen im Wind oder der passive, unreflektierte Empfänger von Befehlen. Ihn nur als naiv darzustellen, wäre mir hier zu einfach. Er bleibt heimatlos und findet keinen Weg, seine Taten zu rechtfertigen.

"Er schaltete den Apparat an und nahm Platz. Leise Signale tröpfelten durch einen Strom aus Knistern und Pfeifentönen. Er sendete sein Rufzeichen, dann ein CQ - come quick. Er wiederholte das ein paar Mal und genoss das Weltraumrauschen und Knistern, das Gefühl, die ganze Welt zu sich strömen zu lassen. "