Nicht erfüllte Träume und eine Suche nach einem Platz im Leben

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elke seifried Avatar

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San José, Costa Rica, Mai 1953 »Don José, Post für Sie«, ruft Maria, [….] Er hat seinem Bruder drei Monate nicht geschrieben. Meist wird ihm das quittiert mit Vorwürfen. Wir haben uns doch immer bemüht, das Verhältnis aufrechtzuerhalten.“, „Als er den Umschlag aufschlitzt, fällt ihm eine Zeitschrift entgegen. Wie von allein öffnet sie sich dort, wo Carl seinen Brief eingelegt hat. Und er sieht sein eigenes Gesicht. Das Foto tauchte damals überall auf, auch in der New York Times. Er vor seiner Funkstation,“

Der Roman beginnt damit, dass Joe Klein, vor einigen Jahren nach Südamerika ausgewandert, Post von seinem Bruder Carl bekommt. Dieser informiert ihn darüber, dass in der Zeitschrift STERN eine Reportage über seinen Fall erscheint. Fünf Folgen, „Ein Tatsachenbericht über die Aktivitäten des deutschen Geheimdienstes in Amerika.“ Joe ist gespannt, es „ist die Geschichte, die er schon kennt, nun aus Sicht der Deutschen; Vaterlandsliebe. Erzählt wie ein Krimi, als sei das alles Unterhaltung. »FBI! Sie sind verhaftet! Wie wär’s mit einem schnellen Geständnis? Wenn Sie reden, ersparen Sie sich vielleicht das Schlimmste!« Kein Wunder, dass Carl so aufgeräumt, fast begeistert klingt. Aber es ist keine Unterhaltung. Es ist sein Leben.“ Und genau aus diesem Leben bekommt man in den anschließenden Kapiteln erzählt.

Zunächst wirft die Autorin mit einem Erzählstrang im Jahr 1949, der in Neuss handelt und bei dem Joe eben aus den USA bei seinem Bruder ankommt, mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Warum hat Joe keine Papiere, warum war er viele Jahre interniert, warum herrscht zwischen den Brüdern eine solch angespannte Atmosphäre, warum wirft Joe seinem Bruder "Nur BBC-hören ist als Widerstand gegen die Nazis zu wenig" vor, warum weiß dieser wiederum bisher nichts von seiner Zeit in Amerika? Mein Interesse war sofort geschürt und auf meine vielen Fragen wollte ich Antworten und mit diesen geht die Autorin äußerst sparsam vor. Der gesamte sich anschließende Roman setzt sie aus Handlungssträngen aus verschiedenen Zeiten und Orten zusammen, die sich kapitelweise abwechseln.

Man erfährt zeitgleich von 1925 an beginnend, als Joe als Auswanderer mit der Hoffnung auf ein besseres Leben auf Ellis Island ankommt, in New York schließlich in Harlem lebt und merken muss, dass der Traum vom Reichtum schnell ausgeträumt ist. Einziges Vergnügen ist seine Flucht in die Welt der Amateurfunker. Dort lernt er nicht nur Lauren, keine schöne, aber dennoch reizvolle Frau kennen, sondern gerät auch auf den Radar amerikanischer Nazis. Naiv denkt er bei einem Jobangebot zu Beginn noch, er würde Informationen für Unternehmen weiterleiten, muss er dann nach und nach erkennen, dass er inzwischen tief in den Fängen der Deutschen ist. Will er sie doch eigentlich gar nicht unterstützen, lassen sich die nicht ganz so einfach abschütteln. Eine Situation, die ihn zum Ruhelosen macht. Wie sich die Zusammenarbeit entwickelt, warum und wie er dann verhaftet wird, will ich nicht verraten, das tut die Autorin ja auch erst kurz vor Ende.

Ein anderer Handlungsstrang spielt im Jahr 1949. Joe aus Amerika abgeschoben, findet mehr schlecht wie recht Unterschlupf bei seinem Bruder Carl und dessen Familie. In Rückblicken erfährt man davon, dass eigentlich beide vom Auswandern geträumt haben, Carl bei einem Unfall aber ein Auge verloren hat und deshalb in den USA keinen Einlass mehr bekommen hätte. Die Atmosphäre im Zusammenleben dort ist mehr als angespannt, unausgesprochene Vorwürfe, nicht gestellte Fragen, zudem noch eine seltsame Spannung zwischen Joe und Carls Frau Edith, von der Carl nicht erfahren darf. So wie schon Jahre vorher fühlt Joe sich auch hier nicht zuhause, weshalb er plant nach Südamerika auszuwandern.

Dort spielt der dritte Handlungsstrang Jahre später, der sich ebenfalls noch dazwischenschiebt. Flucht dorthin, Nazis wieder unter sich, oder nur eine Zwischenstation? Auch hier will ich nicht mehr verraten.

Die Autorin lässt mit ihrem Roman durch persönliche Eindrücke miterleben, wie schnell der Traum von einem besseren Leben in den USA beim damaligen Auswanderer Josef Klein ausgeträumt war. Zudem erhält man durch die Beschreibungen von Alltag, Arbeit und Straßenleben in New York sowohl Eindrücke von der Stimmung dort in den Jahren vor und während des Zweiten Weltkriegs als auch einen ganz kleinen Einblick in Nazigruppierungen, die sich dort aufhielten. Ein umfassendes Bild ist bei mir beim Lesen nicht entstanden, dazu empfand ich die einzelnen Szenen zu zerrissen. Da hatte ich mir vielleicht ein klein wenig mehr erhofft als diese einzelnen Spotlights. Aber gut gefallen hat mir, dass sich darunter auch zahlreiche kleine interessante Detail befunden haben, die mir vorab völlig unbekannt waren. So habe ich vorher z.B. nicht von einem speziell für Hitler gebrautem Bier oder auch nichts von dem Film „Confessions of a Nazi Spy“ aus dem Jahr 1939 gehört. Gemeinsam mit den Literaturtipps am Ende des Romans für mich sicher ein Zugewinn an Wissen.

„Einfach ein Mensch sein, dachte er. Der isst, atmet, schläft, arbeitet, manchmal mit Frauen flirtet, sofern sie über dreißig waren. Einfach sein. Irgendwann kam die Einsicht, dass einfaches Sein das Schwierigste war. Alle wollten irgendetwas aus einem machen. Und sei es, einen Deutschen, der nichts dafür konnte, Deutscher zu sein.“ Mindestens genauso viel, wenn nicht sogar noch mehr Gewicht legt die Autorin aber auch auf die Darstellung einer tragischen Lebensgeschichte von einem Mann, der auf Identitätssuche ist, der wie ein Ruheloser keine Heimat findet. Aufgrund der Beschreibung habe ich damit nicht so gerechnet. „Ein stummer Vorwurf in diesem Schweigen, und der Vorwurf galt dem Leben selbst oder vielleicht den Einwanderungsgesetzen Amerikas. Das Erste, was dieses verlorene Auge bedeutete, war der Verlust seiner Einreisegenehmigung. Sie hatten gemeinsam Englisch gelernt, doch Carl würde auf Ellis Island ein weißes Kreidekreuz auf die Schulter gemalt bekommen und zurückgeschickt werden.“ Da auch sein Bruder zu den Enttäuschten vom Leben gehört, so hat er auf mich gewirkt, habe ich die Stimmung im Roman zu großen Teilen eher als drückend empfunden.

Der Sprachstil der Autorin hat mir sonst aber gut gefallen. Kurze, knappe Sätze, die Fahrt verschaffen, die häufigen Perspektivwechsel, die nur in kleinen Häppchen wie bei einem Puzzle nach und nach ein Bild entstehen lassen, haben bei mir viel Spannung erzeugt. Ich hätte das Buch nicht aus der Hand legen wollen, bevor ich nicht am Ende erfahren habe, wie es zur Verhaftung kam.

Alles in allem hat mir Ulla Lenze wirklich gute Unterhaltung geboten, einen kleinen Einblick in die Welt der Nazis in den USA und in Amerika, die es gab und immer noch gibt, geboten und mich definitiv dazu angeregt mich näher mit dem Thema zu beschäftigen. Für fünf Sterne genügt es bei mir nicht mehr ganz, aber sehr gute vier und eine Leseempfehlung sind drin.