Porträt einer Befreiung

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thirteentwoseven Avatar

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In dem Buch "Der Empfänger" beleuchtet Ulla Lenze einen bisher nicht so bekannten Aspekt der Geschichte des Dritten Reiches. Nationalsozialistisches Deutschtum und Spionage deutscher Auswanderer für Nazi-Deutschland in den USA.
Josef Klein, die Hauptfigur des Buches, schlittert in New York mehr oder weniger unbewusst in Nazi-Kreise und verstrickt sich immer tiefer in dem braunen Sumpf. Ohne es direkt zu wollen, baut er für die deutsche Abwehr ein Funkgerät und macht sich damit schuldig.
Ulla Lenze zeigt in ihrem Roman anhand von Josef Klein wie schnell man vom Unbeteiligten zum Mitläufer und Mittäter wird und wie viel Kraft es bedarf "nein" zu sagen zu unmoralischem Handeln. In einem fremden Land, allein, ohne Geld, ohne richtige Wurzeln und familiären Halt. Josef Klein schlägt sich schließlich "unter Schmerzen" auf die richtige Seite und nabelt sich nach einem jahrelangen Prozess von den Nazis ab. Er ist endlich frei. So frei wie das kleine, gefangene Eichhörnchen, das die Geschichte bildhaft ummantelt.

In meinen Augen steht die Geschichte von Josef Klein stellvertretend für ein Thema, das sich in der Geschichte wiederholt und heute aktueller ist denn je. Wie empfänglich ist der Mensch (wir) für Propaganda und politische Stimmungsmache? Wie viel lassen wir mit uns machen? Wie weit sind wir korrumpierbar? Sind wir nicht alle Empfänger? Empfänger von Botschaften, Stimmungen, Gesinnungen, Meinungsmache und - Fake News. Es liegt an uns, den richtigen Weg zu gehen, auch wenn er kein einfacher ist.

Ulla Lenze erzählt die Geschichte von Josef Klein völlig unaufgeregt in geschliffener, bildhafter Sprache. Auf die Schilderung von Greueltaten und Grausamkeiten wird weitestgehend verzichtet. Es geht vielmehr um die eindrückliche Schilderung des inneren Konflikts und die Zerrissenheit der Hauptfigur, die immer wieder mit sich selbst kämpft. Schwarz und weiß gibt es nicht. Josef Klein ist ein kleiner Mann in Grautönen, kein wirklicher Held, aber auch kein wirklicher Kriegsverbrecher. In all seiner Kleinheit zeigt er aber letztlich Größe und steht für Reflexion, selbstbestimmtes Handeln und Emanzipation.

Die Wahl des Titels finde ich genial. Zuerst bezieht man ihn auf die Funktätigkeit und das Funkgerät, aber Josef Klein empfängt kaum politische Botschaften und schon gar keine aus Nazideutschland. Er versendet dorthin. Was er wirklich empfängt und absorbiert, sind die politischen Botschaften und Tendenzen um ihn herum, die ihn zu verreißen drohen.

Fazit: Der Empfänger ist ein historisch interessantes, sehr tiefgründiges und zum Nachdenken anregendes Buch. Ich finde es trotz ein paar kleiner Längen sehr lesenswert. Für Liebhaber anspruchsvoller Literatur hat es meine volle Empfehlung.