Zum Nazi verdammt

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"Er ist in genau jener Stimmung, die immer herrschen müsste: offen, voller Leben und Gefühl. Er weiß jetzt, er wird weiterziehen."

In Zeiten der Wirtschaftskrise wandert der junge Josef Klein nach Amerika aus, um dort mit seinem Bruder ein neues Leben zu beginnen und Geld zu verdienen. Am Ende landet er alleine in New York und richtet sich sein Leben dort so gut wie möglich ein. Schnell gerät er in den Kreis um den Amerikadeutschen Bund und wird unwissentlich als Funker für den Geheimdienst eingesetzt. Als Lauren in sein Leben tritt und sich für ihn ein neuer Weg eröffnet, beginnt er, seine Aufgaben und bald sein ganzes Leben zu hinterfragen.

Hinter diesem Cover und dem recht trockenen Klappentext habe ich vor allem eins erwartet: viel Politik und Technik. Aber nichts da - Ulla Lenze fängt den Leser ein mit hauptsatzlastigen Personen- und Landschaftsbeschreibungen, die tief wühlen. Manche Sätze lassen innehalten, wollen zwei oder dreimal gelesen werden, zeigen Josef als feinfühligen Mann, der da in etwas hineingeraten ist. Anders kann man es nicht beschreiben. Josef geht vorgeblich naiv durchs Leben, obwohl er alles versteht. Er ist nur ein kleines Rädchen im Geheimdienst der Deutschen, und doch gilt: Mitgehangen, mitgefangen. Die Amerikadeutschen in diesem Buch sind allesamt gruselige Hitlerverfächter, aber man trifft auch auf adelige Amerikanerinnen, die die Sache des Führers gutheißen, oder so kuriose Gestalten wie einen schwarzen Bürgerrechtskämpfer, der Hitler für seinen Judenhass verehrt. Eine verdrehte Welt, von der wir heute, in der historischen Rückschau, annehmen, sie sei klar geregelt und Ideologien klar getrennt gewesen.

Josef (oder amerikanisiert Joe) ist mittendrin und doch nicht dabei. Er ist ein friedliebender Mensch voller Zuneigung für das bunte Multikulti New Yorks. Aus Pflichtgefühl lässt er sich von seinem Arbeitgeber aber zu Naziveranstaltungen mitschleppen, ohne irgendetwas davon gutzuheißen. Unbeteiligt sitzt er neben den Jubelnden. Gleichzeitig äußert er immer wieder merkwürdig ambivalente Gedanken, die er eigentlich gar nicht hat, nur um sich nicht so ausgeschlossen zu fühlen und sein Handeln besser erklären zu können. Yorkville, Klein-Deutschland mitten in New York, wird zum Zentrum politischer Aktivität - von der uns die Autorin aber glücklicherweise nur wichtige Happen präsentiert. Das Geschehen bleibt gut nachvollziehbar, ohne überthematisiert zu werden.

Joe kann sich dem Fluss der Zeit nicht erwehren und wird zum Spielball der Mächte. Seine Beziehung zu Lauren scheint erstmal alles gerade zu biegen, aber bald muss er erkennen, dass New York nicht nur die Traumlandschaft ist, durch die er seit 25 Jahren voller Staunen wandelt, sondern gefährliches Terrain für Männer ohne Freunde und Beziehungen.

Die Autorin nähert sich dem Kernpunkt der Geschichte von unterschiedlichen Zeiten und Orten aus. 1939 in New York, 1946 im Internierungslager auf Ellis Island, 1949 in Neuss bei Düsseldorf, 1952 auf Costa Rica. Langsam puzzelt sich so die Geschichte des sprich- und wortwörtlich kleinen Mannes Joe zusammen, der viel erlebt, viel leidet, aber auch viel versteht. Irgendwann, im letzten Drittel, verliert die Geschichte zwar ein bisschen an Schwung, aber alles wird wettgemacht durch die Überfahrt nach Argentinien und das Leben unter den Exildeutschen.

Die Autorin vermittelt mit ihrem Roman nochmal neues Wissen zu dieser Epoche und zeigt anschaulich, dass in diesem vermaledeiten Krieg keiner sicher war. Als Deutscher war man zum Nazi verdammt - ganze Familien wurden nur wegen ihrer deutschen (oder japanischen oder italienischen) Abstammung auf Ellis Island interniert; wer andererseits nicht mitgemacht hat, galt unter den Amerikadeutschen als Verräter. Das sind Aspekte, die man selten bis gar nie zu hören bekommt. Aber auch der Blick aufs Nachkriegsdeutschland, in zerbombte Häuser und auf spärlich gedeckte Tische, kommt nicht zu kurz.

Ob Joe nun Täter oder Opfer war, lässt sich nicht feststellen - irgendwie war er einfach beides. Und kann man einem einzelnen Menschen vorwerfen, dass er die Spiele der Mächtigen nicht durchschaut und versucht, sich und sein Handeln zu rechtfertigen, damit er irgendwie damit leben kann? Was hat er überhaupt getan? Und besonders wichtig: Was ist Heimat?

"Wie oft er irgendwo ankam und so tun musste, als sei es sein Zuhause."

Ulla Lenze stellt also reichlich wichtige Fragen, die jeder für sich selbst beantworten muss. Ihr Stil und ihre Worte laden jedenfalls herzlich dazu ein, dieses Buch zu genießen - ob im atmosphärischen Großstadtdschungel New York, dem kargen Nachkriegsdeutschland oder den üppigen Regenwäldern Costa Ricas.