Die Tänzerin lernte ich kennen, den Menschen dahinter nicht

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viv29 Avatar

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Einen Roman über jemanden zu schreiben, dessen Leben wirklich der reinste Roman war, ist eine ausgezeichnete Idee und so war ich sehr gespannt, wie Steffen Schroeder die schillernde Anita Berber erfassen, darstellen würde. Ich wußte bis dahin über sie und ihr Leben einige Dinge, über sie als Mensch aber noch recht wenig. Um es vorab zu sagen: ich habe durch dieses Buch viel über sie erfahren, der Mensch Anita Berber blieb mir leider trotzdem fremd.

Das liegt zu einem Großteil an der distanzierten Erzählweise. Steffen Schroeder schreibt einen an sich guten, sehr eigenen Stil und mir gefiel diese Individualität seines Schreibens. Dazu kommen zahlreiche gekonnte Formulierungen, an denen ich viel Freude hatte. Auch die Atmosphäre der Zeit erweckt der Autor gelungen zum Leben. Mit vielen Details schafft er die Welt, in der Anita Berber sich bewegte, die Leser machen praktisch mit ihr einen Streifzug durch das Nachtleben Berlins und Wiens, durch drogengeschwängerte Feste, betrunkene Auseinandersetzungen, desillusionierte Morgenstunden in diversen Hotelzimmern. Ich konnte in das Buch richtig eintauchen.

Was der Autor bei der Atmosphäre so meisterhaft beherrscht, konnte oder wollte er beim Charakteraufbau leider nicht leisten. Neue Charaktere werden plötzlich in die Geschichte hineingeworfen, irgendwann taucht ein neuer Name auf und man fragt sich, wer das sein soll. Manchmal gibt es einige Erklärungen und manchmal eben nicht. So bleiben die Charaktere oft bloße Namen, manchmal lernt man sie ein wenig kennen, aber während die Handlungsorte sich so eindrucksvoll entfalten, wabern die Charaktere größtenteils konturlos durch die Geschichte. Auch Anitas Familie bleibt blass, was sehr enttäuschend ist. Die innige Beziehung zu ihrer Großmutter klingt ein wenig durch, die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter, die so viel erzählerisches Potential geboten hätte, wird nur gelegentlich angedeutet. Auch die Beziehungen zu ihren Ehemännern werden höchstens angerissen. Man erfährt seitenlang, wie Anita Berber sich schminkt und welche Tanzschritte sie in welcher Formation verwendet, aber ihre Beziehungen zu den Menschen in ihrem Leben, die doch den Menschen Anita geformt haben und ausmachen, bekommen in diesem Theater ihres Lebens Plätze in der hinteren Reihe. Das liegt unter anderem auch an dem oft berichtsartigen Schreibstil, der nur wenige Dialoge verwendet und uns Gespräche oft erzählt, anstatt uns an ihnen teilhaben zu lassen. Es fehlt zu oft die Unmittelbarkeit.

Im Gegensatz dazu steht dann hingebungsvolles Infodumping, ein Aspekt, der mich an diesem ansonsten guten Buch geärgert hat. Unablässig läßt Schroeder seine Charaktere Vorträge halten, deren Inhalt mit der Handlung höchstens marginal zu tun hat und meistens komplett entbehrlich ist. Selbst bei den für die Geschichte notwendigen Fakten ist es leider eine sehr plumpe Art, diese so in die Geschichte einzubauen. Im Buch erfahren wir also nun seitenweise etwas über Schmetterlinge, über technische Aspekte von Ton- und Stummfilm, über Heiligenfiguren, Schminktechniken, Bauweisen von Filmstudios, eine stereotype Showhypnose und vieles mehr. Vieles ist komplett unnötig, anderes hätte sich wesentlich eleganter einflechten lassen. Auch einige bekannte Zeitgenossen Anitas werden etwas plump zum Gesprächsthema gemacht, nur um sie mal erwähnt zu haben, überhaupt sind viele Dialoge keine echten Dialoge, sondern Infodumping. Wenn diese Detailfreude und dieser Aufwand stattdessen in die Charakterentwicklung gegangen wäre, hätte das Buch m.E. sehr gewonnen.

Insgesamt aber ist das Buch lesenswert. Der Stil ist zugleich gekonnt und leicht lesbar, es gab abgesehen von den Infodumping-Passagen keinen Moment, in dem ich mich gelangweilt habe. Es wird episodisch erzählt, was gerade am Anfang dazu führte, dass ich mir einige verbindende Informationen gewünscht habe, aber letztlich erfährt man alles Wichtige über Berbers Leben und merkt in jedem Satz die sorgfältige Recherche. Die Szenen ihres langsamen Dahinsiechens, welche immer wieder eingestreut sind, haben etwas leise Sensibles, etwas Anrührendes. Hier sieht man auch wieder Schroeders Talent für das Atmosphärische – man erlebt im Buch so viele verschiedene Stimmungen mit und spürt sie beim Lesen ganz hervorragend. Diesen eigenen, gekonnten Schreibstil des Autors kann ich nur noch einmal erfreut hervorheben und er hat einige der Punkte wettgemacht, die mir nicht zugesagt haben. Eine überwiegend erfreuliche Leseerfahrung mit hohem Informationsgehalt und interessanter Sprache.