Atemberaubende Darstellung

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fraedherike Avatar

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„Wenn ich einen Wunsch freigehabt hätte, hätte ich mir nichts Ausgefallenes gewünscht, nur einen normalen Tag, an dem wir alle als Familie zusammen sein konnten; einen Tag, an dem wir einfach zusammen essen, reden und lachen konnten. Ich frage mich, wie viele Menschen überall auf der Welt so einen normalen Tag erlebten, ohne zu wissen, wie besonders und kostbar das war.“ (S. 195)

Huong wächst in den 1970er Jahren bei ihrer Großmutter in Hanoi auf. Ihre Kindheit ist vom Vietnamkrieg geprägt: Bombenalarm, Hunger, Angst – und nicht zuletzt die Sehnsucht nach ihren Eltern. Ihr Vater wurde vom Militär eingezogen und ist seitdem verschollen, woraufhin ihre Mutter ihm wenig später folgte, um ihn zu finden. Gemeinsam mit ihrer Großmutter durchlebt sie die Phasen der Zerstörung und des Wiederaufbaus, doch niemals verliert sie die Hoffnung, dass ihre Eltern zurückkehren könnten. Zur Ablenkung – und um durch die Erinnerung die Geister der Gegangenen am Leben zu erhalten – erzählt ihre Großmutter dem jungen Mädchen die Geschichte ihrer Familie, von ihrer eigenen Kindheit im Frieden und Wohlstand des frühen 20. Jahrhunderts, der Kindheit ihrer Eltern, Tanten und Onkel sowie den Zeiten des Umbruchs, der Besatzung durch die US-Amerikaner, den Landreformen und dem Beginn des Vietnamkriegs. Ein Leben, gebeutelt von Leid und Armut, voll mütterlicher Liebe und Fürsorge – und doch überstrahlt die Hoffnung und der Glaube, dass das Schicksal sich zum Guten wenden würde, alles.

„Wenn unsere Geschichten überleben, werden wir nicht sterben, selbst wenn unsere Körper nicht mehr auf dieser Erde weilen.“ (S. 35f)

Mit ihrem Roman „Der Gesang der Berge“ (OT: The Mountains Sing, aus dem Englischen von Claudia Feldmann) ist Nguyễn Phan Quế Mai ein wahres Meisterwerk gelungen. In zwei Zeitebenen – den frühen 1920er Jahren und den 1970er Jahren des Vietnamkriegs – erzählt sie in gleichermaßen hoffnungsvoller, sonniger Mentalität und unglaublich harten, brutalen Bildern voller Schmerz und Leid die epische Geschichte einer vietnamesischen Familie, die über die Jahrzehnte zerstört wurde und immer wieder um ihr Überleben kämpfen musste. Im Wechsel beschreiben Großmutter und Enkelin ihre Erfahrungen mit dem Krieg und den gegenwärtigen Umgang damit, die Narben, die er hinterlassen hat bei den Überlebenden und Rückkehrern. Man erfährt einiges über die vietnamesische Kultur und Kunst, etwa alte Weisheiten und Sprichwörter, über das Alltagsleben, die politische und gesellschaftliche Lage – über die Licht- und Schattenseiten. Sehr interessant ist auch der Einfluss westlicher Literatur auf Huongs Weltanschauung: In den Romanen amerikanischer Autoren – also der des Feindes – lernt sie, dass sie nicht allesamt schlecht sind, in den Büchern sind sie schließlich ihre Freunde, die sie in den dunklen Stunden begleiten und ihr Hoffnung geben, dass es eines Tages besser sein wird, genauso schön und friedlich, wie es dort beschrieben ist.

Nicht nur vom Aufbau und der Plotline her hat mich der Roman auf ganzer Linie überzeugt, auch sprachlich hat Nguyễn Phan Quế Mai mich mitten ins Herz getroffen: Es ist wie mit dem Zuckerbrot und der Peitsche; sie beschreibt so klar und direkt, ungefiltert, wie der Krieg die Menschen zeichnet, was er ihnen nicht nur unmittelbar, sondern nachhaltig antut, man kann und will es sich gar nicht vorstellen, aber die Bilder entstehen trotzdem und bleiben. Und dann gibt es auch immer Phasen der Hoffnung, voll von ansteckend beseelter, asiatischer Mentalität, klangvollen Redewendungen, die in der deutschen Übersetzung in vietnamesischer Sprache beibehalten wurden und dem Leseerlebnis so einen ganz besonderen Touch verleihen. Einer jeden Protagonistin wohnt eine ganz besondere Kraft bei, eine Wonne an Empathie und Wärme, die sie mich sofort ins Herz schließen ließen und dieses bei dem Rückschlag erzittern ließ.

„Der Gesang der Berge“ hat mir nach dem grandiosen Debütroman „Wo auch immer ihr seid“ von @pham_fatale genau das gegeben, worüber ich noch so viel mehr wissen wollte – und so viel intensiver, gefühlvoller und lebendiger, als es jedes Geschichtsbuch gekonnt hätte. Dieses Buch lässt einen so schnell nicht wieder los, und das ist auch gut so, denn es lehrt einen das zu schätzen, was man hat.