Kluge Mischung aus Thriller und Gesellschaftsporträt

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
christian1977 Avatar

Von

Camp Emerson in den Adirondack Mountains im August 1975: Im Sommercamp für Kinder und Jugendliche verschwindet die 13-jährige Barbara spurlos von einem Tag auf den anderen. Eine groß angelegte Suche bringt keinen Erfolg, das Mädchen bleibt verschwunden. Besonders die in der Nacht zuständigen Betreuerinnen Louise und Annabel machen sich Vorwürfe, schließlich haben beide ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei Barbara um kein gewöhnliches Kind aus dem Ferienlager handelt. Die Jugendliche ist die Tochter der reichen Familie Van Laar, der das Camp und die umliegenden Ländereien gehören. Zudem weckt das Verschwinden Erinnerungen an ein Ereignis vor 14 Jahren, als ausgerechnet Barbaras damals achtjähriger Bruder Bear ebenfalls plötzlich nicht mehr auffindbar war und bis heute nicht zurückgekehrt ist. Kann das Zufall sein?

"Der Gott des Waldes" ist der neue Roman von Liz Moore, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz bei C. H. Beck erschienen ist. Auf knapp 600 Seiten zeichnet Moore darin nicht nur die akribische Polizeiarbeit beim Verschwinden eines Kindes nach, sondern widmet sich auch den gesellschaftlichen Unterschieden zwischen Arm und Reich und Frau und Mann der 1960er- und -70er-Jahre in den Vereinigten Staaten. Nicht abschrecken lassen sollten sich potenzielle Leserinnen vom etwas plakativen Blutstropfen auf dem ansonsten wunderschönen Cover, der allerdings nicht ohne Grund rosa und eben nicht rot ist. Denn sonderlich blutig geht es in "The God of the Woods", so der Originaltitel, glücklicherweise nicht zu.

Der Roman wird als "literarischer Thriller" beworben, was durchaus passend ist. Leser von gewöhnlichen Thrillern könnten enttäuscht sein, denn das Erzähltempo von "Der Gott des Waldes" ist angenehm langsam. Moore nimmt sich viel Zeit für die größtenteils gelungene Charakterisierung ihrer vorwiegend weiblichen Hauptfiguren. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Figur Judyta, eine junge Polizistin, die erstmals in einem Fall solcher Dimensionen ermittelt. Nimmt man den etwas aufdringlichen Quid-pro-Quo-Hannibal Lecter-Gedächtnismoment heraus, macht ihre akribisch beschriebene Ermittlungsarbeit richtig Spaß. Ihre Entwicklung während der 600 Seiten macht aus "Der Gott des Waldes" zudem eine Art Emanzipationsroman. Es ist gerade mit Blick auf Judyta beeindruckend, mit welcher Tiefe Moore ihr Personal ausstattet. Früh wird auch klar, auf wessen Seite die Sympathien der Autorin liegen. Klar stellt sich Moore auf die Seite der Außenseiterinnen und Armen. Kritisch anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass die Figurenzeichnung der Reichen vor diesem Hintergrund etwas stereotyp gerät. Insbesondere der männliche Stammbaum der Familie Van Laar ist - mit Ausnahme des Sonnenscheins Bear - gnadenlos unsympathisch überzeichnet.

Stark ist hingegen die Multiperspektivität, mit der Liz Moore zentrale Ereignisse rund um das Verschwinden der Kinder darstellt. Dies sorgt für Abwechslung und Spannung, denn der Leser ist dabei gefordert, sich selbst ein Bild der dramatischen Ereignisse zusammenzusetzen. Manchmal werden regelrechte Cliffhanger erst nach zahlreichen Seiten aufgelöst, was auch daran liegt, dass Moore nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch vornehmlich zwischen den Jahren 1961 und 1975 hin- und herwechselt. Früh wird nämlich klar, dass sich "Der Gott des Waldes" eben nicht nur um das Verschwinden Barbaras, sondern auch um den Fall des vermissten Bear dreht. Möchte man der Autorin diesbezüglich etwas vorwerfen, dann die Tatsache, dass sie einen ähnlichen Fehler begeht wie die Eltern Van Laar. Diese waren nämlich voller Liebe für den kleinen Bear, während Punkmädchen Barbara kaum Zuneigung erfuhr. Und auch Moore verliert Barbara zwischenzeitlich aus den Augen, weil sie sich zu sehr dem engelsgleich gezeichneten kleinen Jungen widmet.

Während die Naturbeschreibungen der Adirondack Mountains in meinen Augen etwas stärker hätten ausfallen können, gelingt es der Autorin hervorragend, die Lagerfeuer-Stimmung des Feriencamps zu vermitteln. Im Gegensatz zu Hendrik Otrembas "Benito", bei dem von Beginn an eine bedrohliche Pfadfinder-Atmosphäre herrschte, die später in puren Horror ausartete, gibt es bei Moore immer wieder auch warme Momente. So beispielsweise in der zärtlich gezeichneten Mädchenfreundschaft zwischen Barbara und Außenseiterin Tracy, aber auch in der sensiblen Annäherung zweier Jungen, die eher Nebenfiguren sind. Ohnehin ist "Der Gott des Waldes" ein Roman, der sich vornehmlich seinen weiblichen Protagonistinnen widmet, auch wenn es durchaus interessante männliches Personal wie den gerade aus einem nahen Gefängnis ausgebrochenen Mehrfachmörder Jacob Sluiter, genannt "Schlitzer", gibt.

Insgesamt ist "Der Gott des Waldes" eine gelungene Mischung aus anspruchsvollem Thriller und Gesellschaftsroman, der durchgehend für Spannung sorgt und dem man letztlich auch verzeiht, dass im Finale nicht alle Erzählfäden zu einem befriedigenden Ende führen. Liz Moore gelingt es, ein bis in die kleinsten Nebenrollen interessantes Personal zu kreieren. In den USA längst ein Bestseller, sollte er auch in Deutschland ein breites Publikum ansprechen.