Zwischen Fortschritt und Ausbeutung – Ein Roman über ein monumentales Bauprojekt & historische Ungerechtigkeiten

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"Leider scheinen die Nordamerikaner das nicht zu begreifen. In ihren Augen wissen und haben wir nichts - nichts, das es zu wissen oder zu haben wert wäre, soweit es sie betrifft. Sie sagen, dass ihr Vorhaben Dinge wie Fortschritt und Zivilisation und Modernität hierherbringen wird - ich bin sicher, ihr habt diese Worte auch gehört -, als ob die Werkzeuge, die wir geschaffen haben, die Gebäude, die wir errichtet haben, das Land, das wir kultiviert haben, die Gesellschaft, die wir organisiert haben, aus irgendeinem Grund weder Fortschritt noch Zivilisation oder Modernität sind, und damit nichts zu tun haben." - Buchzitat S. 228
Cristina Henríquez erzählt in ihrem historischen Roman „Der große Riss“ von der Entstehung des Panamakanals und den Menschen, die daran beteiligt waren. Die US-amerikanische Autorin, bekannt für „The Book of Unknown Americans“, widmet sich in ihren Werken oft sozialen Themen und Migration. Auch in diesem Roman stellt sie die Perspektiven derjenigen in den Vordergrund, die in der Geschichtsschreibung oft übersehen werden.

Worum geht’s genau?

Um 1900 entsteht in Panama eines der ambitioniertesten Bauprojekte der Geschichte: der Panamakanal. Menschen aus aller Welt strömen herbei, darunter Arbeiter aus der Karibik, amerikanische Ingenieure und europäische Journalisten. Auch Ada, die aus schwierigen Verhältnissen stammt, und Omar, ein junger Fischer, suchen dort ihr Glück. Doch der Kanalbau bringt nicht nur Fortschritt, sondern auch Ausbeutung, soziale Spaltung und rassistische Hierarchien. Während die einen vom Prestige des Projekts profitieren, kämpfen andere ums Überleben. Henríquez beleuchtet besonders die Rolle der Frauen in dieser Zeit und zeigt, wie unüberwindbar soziale Gräben sein können.

Meine Meinung

Der Klappentext hat mich sofort angesprochen, das Cover hingegen weniger. Dennoch habe ich mich gespannt in die Geschichte gestürzt, die mich stilistisch an Trude Teige erinnerte – nur leider ohne die emotionale Tiefe, die ich mir erhofft hatte. Obwohl die Charaktere viel Potenzial haben, konnte mich keiner so richtig berühren.

Besonders positiv ist die historische Genauigkeit des Romans. Mir wurde erneut bewusst, wie eurozentrisch unser Geschichtsunterricht ist – der Bau des Panamakanals kam darin nie vor, obwohl auch Europäer daran beteiligt waren. Henríquez zeigt eindrücklich die rassistische Zweiklassengesellschaft: Nordamerikaner stehen über allen anderen, was sich sprachlich und in ihrem Handeln ausdrückt. Ein starkes Zitat dazu: „Sie benutzen unsere Namen.“ – „Sie benutzen jeden Teil von uns, wie es ihnen passt.“ (S. 198). Die harte Realität dieser Zeit wird so greifbar, dass ich beim Lesen mehrfach schlucken musste. Dennoch hätte ich mir ein Vor- oder Nachwort gewünscht, das die rassistische Sprache des Romans reflektiert.

Ein großes Plus ist der Fokus auf mutige Frauenfiguren wie Ada, Valentina und Lucille. Besonders Valentina, die sich unermüdlich für ihre Gemeinde einsetzt, hat mich beeindruckt. Auch die Beziehung zwischen Omar und seinem Vater Francisco sowie die Kameradschaft unter den Arbeitern fand ich sehr gelungen. Und Willoughby ist ebenfalls eine sehr liebenswürdige Figur mit sehr (!) viel Geduld. Diese emotionalen Momente und einzelne Figuren haben mir gefallen, aber insgesamt fehlte es mir an einem Lesesog, der mich völlig in die Geschichte zieht.

Die Erzählweise mit wechselnden Perspektiven mochte ich sehr. Dadurch erschließt sich nach und nach das Gesamtbild. Außerdem hilft die Karte am Anfang des Buches, sich geografisch zu orientieren. Der Titel „Der große Riss“ ist klug gewählt: Er steht nicht nur für den Kanal selbst, sondern auch für die gesellschaftlichen Spaltungen, die Henríquez beschreibt.

Fazit

„Der große Riss“ ist ein lesenswerter historischer Roman mit starken Frauenfiguren und eindrucksvoller Gesellschaftskritik. Trotz fesselnder Themen fehlte mir die emotionale Tiefe, um mich wirklich mit den Figuren zu verbinden. 3,5 von 5 Sternen.