Held oder nicht Held? Auch eine Frage.

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kleine hexe Avatar

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Wann wird jemand zum Helden? Wenn er bewusst eine Tat mit positiven Folgen anstößt? Ohne auf die Konsequenzen für sich selbst zu achten? Oder ist er auch dann ein Held, wenn er unbewusst und unabsichtlich eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt hat? Spannende Frage. Kann man ein Held sein, auch wenn man es nicht weiß? Meiner Meinung nach wohl eher nicht. Aber Michael Hartung wird mit Sicherheit in dem Augenblick zum Helden, in dem er in der allergrößten denkbaren Öffentlichkeit Farbe bekennt, ungeachtet aller Konsequenzen und Drohungen, die ihm von offizieller Seite und von der kasachischen Unterwelt angekündigt werden.
Das ganze Malheur beginnt mit dem Auftauchen des ersten Reporters, Alexander Landmann in der kleinen Videothek Michael Hartungs. Es ist Landmanns Ehrgeiz, der den nun folgenden Ereignissen den entscheidenden Schwung gibt. Eine Geschichte, die alle an ihr Beteiligten am liebsten für immer vergessen würden, wird ins Rampenlicht gezerrt, gepusht und erlangt nun immer größere Dimensionen. Es folgen Interviews, Fernsehauftritte, Einladung zum Präsidenten, Werbeverträge. Am Anfang spielt Hartung mit, weil dringend benötigtes Geld hereinkommt und weil Landmann ihn dazu drängt. Landmann hätte viel mehr zu verlieren, außerdem verdient er selbst an dieser aufgebauschten Geschichte riesig mit. Aber Michael Hartung will nicht mehr. Er ist am Ende seiner Kräfte und will aussteigen. Denn nach der Rede im Bundestag soll er auch noch in das Karussell der EU-Politik mit einsteigen. Und spätestens da ist es Zeit für Hartung die Reißleine zu ziehen. Doch das sieht Landmann anders. Er schickt ihm einen Schläger zu, der Hartung brutal zusammenschlägt und das Leben seiner Tochter bedroht. Und jetzt zeigt Hartung was in ihm steckt. Er wird zum echten, wahrhaften Helden. Ansätze dazu hatte er schon gezeigt, als er Paula, seiner großen Liebe, die Wahrheit erzählt hat und die ihn daraufhin verlassen hat. Aber wie gesagt, das waren erst die Ansätze.
Das wahre Ausmaß seines Heldentums offenbart sich während seiner Rede im Bundestag, am 09. November 20219, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. In seiner Rede, die er frei hält und nicht die vom Kanzleramt gestellte Rede abliest, erklärt er, er hätte in den letzten Wochen viele „Politiker, Historiker, Journalisten, Verleger, Filmproduzenten, Werbeprofis“ kennengelernt, die zwei Dinge gemeinsam hatten: „Sie kamen aus dem Westen und haben mir den Osten erklärt“. (S. 294) Und all diese Profis wollten von ihm wissen, warum „wir Ostdeutschen immer noch so anders sind? So undankbar? So schwer erziehbar?“ Was bedeutet „schwer erziehbar“ eigentlich? Nicht dem Standard entsprechend, von der Norm abweichend. Ist aber die westdeutsche Norm die einzig wahre?
Maxim Leo schreibt mit unnachahmlich leichter Feder über schwerwiegende Themen. Seine Ironie ist an manchen Stellen ganz fein und wie hingehaucht, an anderen Stellen tritt sie offen zu Tage, wenn z.B. Holger Röslein, Leiter des „Dokumentationszentrum Unrechtsstaat DDR“ sich mit dem Stasioffizier Fritz Teubner verbündet. Oder wenn Frau Dr. Munsberg, tätig im Bundeskanzleramt, unmissverständlich Wischnewsky und Röslein zu verstehen gibt, dass ihre Ämter gefährdet sind, sollten sie auf eine Enttarnung Hartungs bestehen. Zusätzlich ist sie sich nicht zu schade, ehemalige Stasi-Offiziere zu bestechen: Fritz Teubners Rechtstreit um ein Grundstück wird eingestellt. „Vier weitere ehemalige Stasi-Offiziere hatten erfreuliche Post von der Deutschen Rentenversicherung bekommen“ (S. 197). Auch zwei ehemalige Zeitzeugen, die auf Rösleins Betreiben Hartungs Aussagen bekräftigen, erhalten gute Nachrichten: „Ihre wegen zu großer Staatsnähe reduzierten Betriebsrenten konnten nunmehr vom kommenden Januar an voll ausbezahlt werden“ (S. 197). Der Sarkasmus dahinter ist unüberhörbar.
Das Buch endet in einer versöhnlichen Note. Ohne Pathos, ehrlich und unaufdringlich hat Michael Hartung seine Rede gehalten: „Ich werde versuchen, allen Menschen mit Offenheit zu begegnen…Mehr, meine Damenund Herren, kann ich persönlich nicht tun für dieses Land. Aber wenn Sie alle mitmachen, dann wird das schon werden“ (S. 295).