Ein müder Traum von einem Leben

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herr_stiller Avatar

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„Es war so kalt, dass selbst der Wind fror.“

Ein wunderschöner erster Satz, einer von vielen in „Der Inselmann“, der notiert werden sollte in einem Büchlein für wunderschöne Sätze. Und genau diesen vielen schönen Sätzen, der besonderen Stimmung, die Dirk Gieselmann in seinem Debütroman schafft, verzeiht man, dass der Geschichte am Ende die Luft ausgeht. Oder sie zumindest so ganz anders endet als erwartet, als, nach den intensiven acht Jahren im Leben von Hans Rohleder, seine restlichen Jahrzehnte nur noch ein in Frage gestellter Schnelldurchlauf sind.

Die Leser:innen begleiten Hans‘ mit seinen Eltern auf eine einsame Insel im See, auf der der Vater die Schafe hütet. Irgendwann jedoch wird die Schulbehörde aktiv und Hans muss jeden Tag eine Stunde ans Festland und wieder eine Stunde zurückrudern, bis er vom ehemaligen Nachbarsjungen die Nase gebrochen bekommt und fortan auf der Insel bleibt – und der Schulleiter ihn für Jahre in eine Besserungsanstalt einfahren lässt. Zwischen Dorfstechern und Bettnässern herrscht ein brutaler Direktor, der die Kinder misshandelt, aber Hans trotz 27 Peitschenhieben nicht bricht und ihn schließlich mit der Volljährigkeit in die Freiheit entlässt. Doch seine geliebte Insel, sein Rückzugsort, sein sicherer Hafen in Kindheitstagen, ist ihm keine Heimat mehr.

„Und was ist mit Hans: Ist seine Geschichte traurig? Ist sie schön? Ist sie beides? Gibt es Hans noch? Gab es ihn je?“

„Der Inselmann“ ist im besten Fall ein melancholisches, vielleicht ein tieftrauriges Buch, aber auch, wie Gieselmann es im Zitat erfragt, ein schönes. Es scheint aus der Zeit gefallen, nicht nur, weil seine Geschichte etwas unbestimmt in den späten 50er- oder 60er-Jahren spielt, nein, auch aufgrund von Gieselmanns Schreibe, mal plastisch, mal vage, nie ganz bestimmt und doch eindrucksvoll. Aufgrund seiner Kürze meint man, sie in einem Stück wegatmen zu können und vermutlich ist dies auch möglich, wäre aber schade, denn die Leseabschnitte laden gerade dazu ein, durchzuschnaufen, das Gelesene und Geschehene sacken zu lassen, zu verarbeiten.

Ein überraschendes Buch auch deswegen, dass Dirk Gieselmann bislang eher durch launige Texte für das Süddeutsche Magazin, die Zeit und vor allem das Fußball-Überheft 11Freunde aufgefallen und in Erinnerung geblieben ist und sein Debütroman seinen Kolumnen, Reportagen und Live-Tickern so gar nicht nahe kommt. Was aber durchaus Sinn macht, der Fußball an sich ist ja – je nach Vereinsvorliebe – schon deprimierend genug.

Der Wermutstropfen, der Grund, warum das Buch zwar wunderschön, aber nicht perfekt ist: das Ende. Die letzten Seiten, das Leben des alternden Hans Rohleder im Schnelldurchlauf, hier schwer zu beschreiben, ohne, etwas vorwegzunehmen, ist zu komprimiert. Zu traurig vielleicht auch, man hätte Hans ein schönes, lautes, glückliches und vor allem selbstbestimmtes Leben gewünscht, aber Melancholie und aus dem Takt geratene Leben muss und kann man aushalten. Nur hier fehlte ein wenig die Tiefe der vorangegangenen Kapitel. Aber vielleicht, ja vielleicht, ist es ja wie im Zitat – eine Sage, ein Traum, eine Geschichte von einem Inselmann, die vielleicht so gar nicht stimmt, wenn es ihn denn je gegeben hat. Lesenswert ist sie allemal. Und sie hallt lange nach.

„Alles liegt jetzt wieder da in verschattetem Blau, dem müden Licht eines Traums, der einmal wahr gewesen ist.“