Konzentrische Kreise

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Hans auf der Insel, Hans in der Schule, Hans in der „Burg“. Das sind die Stationen, die der 10-jährige Hans durchläuft, den Dirk Gieselmann in seinem Roman „Der Inselmann“ ganz in den Mittelpunkt rückt. Der Autor spielt hierbei gekonnt mit den gattungsspezifischen Merkmalen von Entwicklungs-, Bildungs- und Erziehungsroman. Denn wir begleiten Hans auf seinem Werdegang, hindurch durch ein ganzes Leben. Doch Hans erscheint uns dabei selten als handelndes Subjekt, das etwas tut. Nein, mit Hans wird gemacht. Und das fand ich traurig zu lesen. Die Eltern nehmen ihn ungefragt mit auf die Insel, um dort ihr Selbstversorger-Einsiedler-Leben zu bestreiten, dann wird er aus diesem Leben herausgerissen, wieder ungefragt. Die Schulpflicht ruft. Und Hans kommt mit den neuen Strukturen, den Anforderungen und vor allem mit dem Schulmeister nicht wirklich zurecht. Daraufhin landet er in der „Burg“, einer Art Besserungsanstalt für auffällige Jugendliche. Und das macht etwas mit Hans…

Auffällig auch: die Sprache. Eine poetische, fast lyrische Sprache. Emotionslosigkeit, Sprachlosigkeit, Pragmatismus, das zeichnet sie aus. Die Sätze sind einfach, schmucklos. Viele Hauptsätze, viele substantivische Aufzählungen, Satzreihen, häufig Verzicht auf Konnektoren. Manchmal: gleiche, sich wiederholende Satzanfänge als Stilmittel. Und darüber hinaus: Bildhaftigkeit, Personifikationen, Antithetik. Das muss man mögen. Mir hat es gefallen.

Auf Handlungsebene: Vagheiten. Wann spielt die Handlung? Unklar. Wo spielt die Handlung? Auch unklar. Vieles bleibt erstaunlich konturenhaft, wenig greifbar. Es herrscht eine Art Zeitlosigkeit, die Tage, Monate, Jahre verschwimmen. Die Zeit verstreicht monoton und ereignislos. Handlungsarmut prägt die Seiten. Das passt gut zur Tristesse des beschriebenen Daseins. Hans bleibt dem Leser ein Fremder. Sein Innenleben wird kaum ausgebreitet. Zwischen den auftretenden Figuren gibt es kaum eine Beziehungsebene. Zwischenmenschlichkeiten werden aufs nötigste heruntergebrochen. Der Umgang der Charaktere miteinander ist oft lieblos, hart und kalt. Die Menschen interessieren sich nicht füreinander, nehmen kaum Notiz voneinander. Die schönen Seiten des Lebens sind nicht präsent. Alles ist trist, bedrückend und deprimierend.

Fazit: Ein Roman mit einem ungewöhnlichen Sprachstil, der aber eine zum Inhalt passende Wirkung erzeugt. Auch die nüchterne Darstellung der Handlungsebene passt gut zu dem Leben des isolierten Hans, der kaum etwas von seiner Umgebung mitbekommt und keine Zärtlichkeiten erlebt. Was auch gelungen ist: das Spiel mit den gattungsspezifischen Merkmalen von Entwicklungs-, Erziehungs- und Bildungsroman. Hans Persönlichkeit entfaltet sich nicht, sie wird förmlich zerstört. Für dieses Buch muss man in der passenden Stimmung sein, die Lektüre ist recht deprimierend. Für das gelungene Sprach-, Inhalts- und Gattungsexperiment vergebe ich 5 Sterne!