Traurig und schön

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angie99 Avatar

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Das Jahr ist noch jung und hat mir trotzdem schon mein (erstes) literarisches Highlight eingebracht!
Das Buch heißt - relativ nichtssagend und doch treffend - "Der Inselmann" und handelt, grob umschrieben, von einer Familie, die auf eine Binneninsel zieht. Eine ausführlichere Inhaltsangabe ist nicht nötig und ich würde sogar empfehlen, einen großen Bogen um eine solche zu machen, damit die Lektüre umso spannender bleibt. Denn obwohl die Ereignisse stets überschaubar bleiben, bieten sie doch einige Wendungen, die umso eindrücklicher ihre Wirkung entfalten, je unvoreingenommener man sich diesem großartigen Roman hingibt.

"Der Inselmann" hat mich schon ab der ersten Seite mit seiner atmosphärischen, dichten Sprache gefesselt. Dass die düstere Grundstimmung nicht aufs Gemüt schlägt, ist einer faszinierenden Leichtigkeit in den Beschreibungen von Naturbeobachtungen und Lebensweisheiten zu verdanken. „Bei seiner Rückkehr hatte die Mutter geschimpft: Wie kann das angehen, hast du schon wieder die Zeit vergessen? Doch es war umgekehrt gewesen: Die Zeit hatte den Jungen vergessen.“ (S. 13) Ich habe manchmal ehrfürchtig den Atem angehalten, weil mich die Wörter so angesprochen, so hineingesogen, so berührt haben.

„Auch diese Geschichte breitet sich aus in konzentrischen Kreisen, im Verschwinden begriffen, in ihrer Mitte ein versunkener Stein. Ist sie traurig? Ist sie schön? Ist sie beides?“ (S. 23)
Ja, diese Geschichte ist definitiv beides.

Sie ist traurig. Die Schicksale der Protagonisten sind berührend, ohne in Rührseligkeiten abzudriften. Besonders wenn es um die Eltern geht, beide auf ihre Weise sprachlos geworden, schwingen auf jeder Zeile verdrängte Traumata mit, ohne dass diese je benannt werden. Der Autor geht mit seinen Figuren sehr sensibel und liebevoll um, er verzichtet auf Schwarz-Weiß-Zeichnungen oder auf Schuldzuweisungen und zeichnet daher nahbare, vielschichte Persönlichkeitsbilder.

Sie ist schön in ihrer beeindruckenden Sprachvirtuosität.
Der Aufbau des Romans hat mich an ein Orchesterwerk erinnert. Den fünf Teilen liegen verschiedene Tempi zugrunde, wobei mir der erste – sehr langsam und intensiv erzählte – am besten gefallen hat. Die Hauptmelodie taucht immer wieder auf, wird abgewandelt, neu interpretiert. Ganze Aussagen erfahren Wiederholungen, neue Themen tauchen wie aus dem Nichts aus und fügen sich doch nahtlos in die Gesamtkomposition ein.
Das Erstaunliche ist, dass die Stille einen großen Raum in diesem musikalisch wirkenden Roman einnimmt. „Die Stille war ein Lied, das lange schon verklungen war.“ (S. 10) „War er seinen Eltern ähnlich? Klang sein Schweigen so wie ihres?“ (S. 153)

Sie ist beides und noch viel mehr.
Eine große Empfehlung für Literaturbegeisterte, die gerne den leisen Dingen nachspüren und den unausgesprochenen Wahrheiten ihr Ohr schenken möchten.