Trifft ins Herz

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irisblatt Avatar

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Eine dreiköpfige Familie zieht kurz vor Weihnachten auf eine einsame Insel. Für die Eltern scheint es eine Flucht aus ihrem bisherigen Leben zu sein, für den 10-jährigen, sensiblen Hans ein Abenteuer und die Chance, endlich die ihn ärgernden Nachbarskinder hinter sich zu lassen. Hans streift durch die Insel, beobachtet genau, lernt sie immer besser kennen und lieben. Sogar sein Herzenswunsch nach einem eigenen Hund erfüllt sich als plötzlich ein herrenloser Mudi auf der Insel auftaucht und die beiden unzertrennlich werden. Nur seinen besten Freund Kalle vermisst Hans. Doch sein Leben als „Inselkönig“ nimmt ein Ende als Hans zurück zur Schule muss und schließlich in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche eingewiesen wird. Bei allen Grausamkeiten und Widrigkeiten, denen er im Leben ausgesetzt ist, trägt er die Insel, seinen Freund Kalle und seinen Hund Bull im Herzen und schöpft daraus Kraft.
Vieles in diesem nur etwa 170 Seiten umfassenden Buch bleibt vage und wir erfahren kaum etwas über die Lebensumstände der Familie und ihre Beweggründe auf die Insel zu ziehen. Zeitlich setzt die Geschichte wohl in den 1960er Jahren ein, der Handlungsort scheint in der DDR zu liegen.
Das außergewöhnliche an diesem Text ist die poetische, verdichtete, bildhafte Sprache, durch die eine intensive Atmosphäre und Raum für eigene Gedanke geschaffen wird. Es ist eine stille Geschichte voller Melancholie, wunderschönen Naturbeobachtungen, wenigen glücklichen und vielen bitteren und traurigen Momenten. Dabei sind wir nah bei Hans, der mit Situationen zurechtkommen muss, ohne verstehen zu können, warum ihm das alles widerfährt. Hans, der in einem sprachlosen, kommunikationsgestörten Elternhaus aufwächst, wird nie lernen unter seinesgleichen zu leben. Dafür findet er einen Zugang zur Insel, zur Natur, die von intensiver Schönheit ist und ihn glücklich macht. Beim Lesen schwankte ich zwischen Mitleid für Hans und einer Bewunderung für seine Stärke, seine Resilienz, seine Empathiefähigkeit allen Umständen zum Trotz.
Doch was ist „Der Inselmann“ eigentlich? Handelt es sich um eine hochpoetische, verdichtete, „traurig-schöne“ oder „schön-traurige“ Erzählung, ein im Realen verankertes Märchen oder ein zeitloses gesellschaftskritisches Stück, das Individualität, Einzelgänger- bzw. Außenseitertum verhandelt und kollektive Maßnahmen zur Umerziehung anprangert? Sicherlich finden sich alle diese Lesarten im Text.
Sprache und Aufbau sind gelungen. Ich habe mich sehr gerne auf die sprachlichen Bilder eingelassen, war immer wieder tief berührt und getroffen von der Wucht und Schönheit der Worte. Auf emotionaler Ebene hat mich das Buch ins Herz getroffen, durchgeschüttelt, traurig und wütend, aber auch angerührt und zufrieden gemacht. Sogar glückliche Momente gab es im überwiegend bedrückenden Setting. Geschichte, Erzählweise, Atmosphäre und Emotionalität sind so außergewöhnlich, dass ich den "Inselmann" wohl nicht vergessen werde. Für mich ist das Romandebüt von Dirk Gieselmann eine kleine, hochpoetische, literarische Kostbarkeit.
Ich empfehle aufgrund des Schreibstils allerdings vor der Lektüre die Leseprobe.