Historischer Abenteuerschmöker, der Fragen offenlässt

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Obediah Chabon wäre vermutlich elend im Zuchthaus von Amsterdam verhungert, wenn sein Auftraggeber nicht ein Schlitzohr wie ihn für ein aberwitziges Projekt gesucht hätte. Der Londoner, der im 17. Jahrhundert wegen Betrug und Fälscherei im Kerker gelandet war, hatte im Milieu Londoner Kaffeehäuser gelernt, buchstäblich das Gras wachsen zu hören. Wer zu Zeiten berittener Boten oder wochenlanger Schiffsreisen zuerst von Warenpreisen, Schiffsmeldungen oder drohenden politischen Konflikten erfuhr, konnte hohe Erträge erzielen. Einem so vielseitig interessierten Ganoven wie Obediah hätte man vermutlich sogar zugetraut, dass er selbst Gold herstellen kann. Nun soll er im Auftrag eines Mittelsmanns der Ostindien-Kompanie den Diebstahl einiger sorgfältig bewachter Kaffeesträucher organisieren, um das Kaffee-Monopol der Türken zu brechen. Bisher war jeder Versuch europäischer Händler fehlgeschlagen, selbst Kaffeesträucher anzubauen, etwa indem sie Setzlinge aus exportierten Kaffeebohnen zogen. Mit dem Plan, Pflanzen aus einem fernen Land auf dem Kamelrücken und auf dem Seeweg nach Europa zu transportieren, von deren Anbau in Europa kaum jemand etwas versteht, hat Obediah sich auf ein gefährliches Abenteuer eingelassen.

Superhirn Obediah interessiert sich für die sonderbarsten Wissensgebiete und scheint skrupellos genug zu sein für Ausrüstung und Durchführung des Kaffee-Raubzugs. Kenntnisse in Seefahrt, Botanik, Handel, Feinmechanik, Verschlüsselungstechniken, Fremdsprachen, Benimm in fremden Kulturen sind für das Projekt gefordert, ganz zu schweigen von der Landeskunde der zu durchquerenden Staaten. Mit seinem vielfältigen Netzwerk von Spezialisten war Obediah offenbar damals bereits ein Pionier des Netzwerkens. Auch wenn er seine Briefe aufwendig verschlüsselt, kann er nicht verhindern, dass seine Aktivitäten genau beobachtet und sein Schriftverkehr ausspioniert werden. Obediahs verdächtiges Treiben lässt seinen Verfolger eine raffinierte Verschwörung vermuten. Die Agenten- Berichte bieten in Form eingeschobener Briefe zusätzlich zum auktorialen Erzähler eine zweite Perspektive. Während dem Agenten als Basis seiner Verschwörungstheorien wie durch ein Fernglas gesehen nur Ausschnitte des Geschehens zugänglich sind, befinden sich Hillenbrands Leser dem Mann stets einige Schritte voraus. Die Zeit der Handlung lässt sich um das historisches Ereignis des Erdbebens von Smyrna am 7.11.1688 herum datieren.

Der Einblick in eine Vielfalt von Berufen, Fertigkeiten und Kulturen macht für mich den Reiz historischer Romane aus. Hillenbrands Held und sein gewagtes Projekt liefern mir diese farbenprächtige Vielfalt ferner Länder und vergangener Zeiten. Was genau Obediah organisiert und wie es sich anfühlt, im Gewand eines Gentleman-Gauners zu stecken, das wird für meinen Geschmack hier nicht tiefgehend genug dargestellt. Eine schillernde Gestalt wie Obediah Chabon weiß offenbar selbst nicht so genau, was seine Persönlichkeit ausmacht. Obwohl ich mich gut unterhalten fühlte, blieben für mich zu viele Fragen zu den Figuren offen und die eher flachen Nebenfiguren konnten mich wenig begeistern.

Empfehlenswert finde ich Hillenbrands historischen Abenteuerschmöker für unerschrockene, geduldige Leser, die weniger Wert auf die Entwicklung der Personen legen.