Der amerikanische Alb-Traum: nah, eindrücklich und menschlich

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angie99 Avatar

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Ich bin kein Fan von englischen Titeln auf deutschen Büchern, doch hier hätte es vielleicht Sinn gemacht, „The Emperor of Gladness“ zu übernehmen. Denn mit Gladness ist hier nicht einfach nur ein Gemütszustand gemeint, sondern bezieht sich auch auf den Handlungsort dieses Romans, East Gladness, eine fiktive Stadt in Connecticut, unbedeutend und trostlos. Und möglicherweise nicht nur Handlungsort, sondern geradezu Mit-Protagonist in diesem 500-Seiten-Wälzer. Ocean Vuong widmet ihm immerhin das gesamte erste Kapitel, beschreibt die Atmosphäre eines vergessen wirkenden, von Armut und Hoffnungslosigkeit durchzogenen Flecks in Amerika. Allerdings: die Sätze, die er dafür findet, sind zwar eindrucksvoll, aber doch etwas „hinüber“. Wie in Poesie paniert und in mehrfach gesättigter Schwülstigkeit frittiert.
Erst als die Personen in den Fokus der Erzählung gerückt werden, kann ich mich für das Geschriebene erwärmen - dann aber umso mehr! Der dichte und langsame Schreibstil wirkt nun nicht mehr schwurbelig, sondern erlaubt eine Nähe, die mich tief beeindruckt hat, sowie auch Vuong Umgang mit seinen Figuren: Hier gibt es kein Gut und Böse, es gibt einfach nur Menschen. Menschen, die bis in die Nebenrollen hinein vielschichtig, wertefrei und lebendig gezeichnet sind. Menschen, das muss man vielleicht wissen, die es nie einfach haben, die am Rande der Gesellschaft stehen (in East Gladness gibt es sozusagen nichts anderes), mit Traumata und Sorgen belastete und mit Sucht und Depressionen kämpfende Menschen. Trotz dieser harten und unangenehmen Themen ist „Der Kaiser der Freude“ kein düsteres Buch, sondern zeigt auf, von welch unschätzbarem Wert der Zusammenhalt unter den Losern ist. Mag sein, dass die unbedingte Solidarität unter den „HomeMarket“-Mitarbeitern, zu denen sich Hai bald zählt, etwas allzu rosig geraten ist, doch es hat mich berührt, diesen aus einer Zweckgemeinschaft entstandenen Zusammenhalt zu verfolgen. Das gleiche gilt auch für Hai und Grazina, die ihm Unterschlupf bietet und dafür Gesellschaft und Pflege bekommt. Ihrem Abgleiten in die Demenz hält der junge Hai seine ganz eigene, außergewöhnliche Taktik entgegen…

„Der Kaiser der Freude“ ist kein wirklich freudiges Buch, die eine oder andere Szene habe ich tatsächlich mit Widerwillen gelesen, und ja, ich könnte noch einiges mehr bemängeln, wie schon erwähnt, den schweren Einstieg, ein paar allzu bemühte Metaphern, eine hier und da seltsame Übersetzung und dann noch das Ende, das irgendwie… Aber nee, manchmal sind es ausgerechnet die Bücher, an denen ich mich reibe, die mir am nachdrücklichsten in Erinnerung bleiben und mich bewegen. Ocean Vuongs jüngstes Werk gehört wohl dazu, und nun werde ich auch seinen Megaseller „Auf Erden sind wir kurz grandios“, den ich bislang erfolgreich ignoriert habe, auf die Wunschliste setzen.