Sucht, Demenz und Lügen

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evaczyk Avatar

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Poetisch und intensiv ist Ocean Vuongs Außenseiter-Roman "Der Kaiser der Freude", gleichzeitig zutiefst menschlich. Sein Protagonist ist Hai, Sohn vietnamesischer Einwanderer, pillensüchtig und lebensüberdrüssig. Für seine Mutter, die in einem Nagelstudio schuftet, hat er, nachdem er bereits das College abgebrochen hat, eine schöne Lüge erfunden: Er sei zum Medizinstudium in Boston zugelassen. Statt dessen begibt er sich in freiwilligen Entzug - und wird gleich am Tag seiner Entlassung wieder rückfällig.

Als er von einer Brücke in den Fluss springen will, bringt ihn eine alte Frau am Ufer von seinem Vorhaben ab: Grazina, 82 Jahre alt, aus Litauen und dement. Hai zieht bei ihr ein, übernimmt Pflege und Medikamentenversorgung der alten Frau, die nachts immer wieder von den Schrecken ihrer Jugend im Zweiten Weltkrieg eingeholt wird. Hai schlüpft in die Rolle des amerikanischen "Sergeant Pepper", um sie durch ihre Alpträume zu bringen.

Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, findet Hai einen Job in einem Fast Food Restaurant, in dem bereits sein jüngerer, autistischer Cousin Sony arbeitet. Hier findet er eine kleine Schicksalsgemeinschaft von Kolleginnen und Kollegen vor, die gerade mal Mindestlohn verdienen, ein prekäres Leben mit Träumen von einer besseren Zukunft haben. Sony, der sich geradezu fanatisch für die Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs interessiert, idealisiert seinen abwesenden Vater und versucht, die Kaution für seine im Gefängnis sitzende Mutter zu verdienen.

Obwohl er ständig high mit Tabletten ist, übernimmt Hai Verantwortung für Grazina und Sony, versucht sie durch ihre jeweiligen Phantasiewelten zu steuern und spielt seiner Mutter am Telefon den erfolgreichen Studenten vor, der für die Aufstiegshoffnungen der Einwandererfamilie steht.

Die Belegschaft des Fast food-Diners wird ebenso zur dysfunktionalen Ersatzfamilie für Hai wie Grazina. Über ethnische Grenzen, Herkunft und Alter hinweg bilden die Underdogs eine Gemeinschaft, die füreinander einsteht und deren wirtschaftliche Existenz konstant bedroht ist.

Vuong hat viel Stoff und ganz unterschiedliche Themen in seinen Roman gesteckt, manches wird nur angedeutet, wie die Gefühle, die der queere Hai für einen seiner Kollegen entwickelt, aber nie auslebt. Eine gewisse Hoffnungslosigkeit zieht sich durch das Buch, um so wichtiger sind die Lügen von einer schöneren Welt, in die sich nicht nur Hai flüchtet. Der Autor überzeugt mit einer lyrischen Sprache, die so gar nicht zu den rauen Lebensbedingungen seiner Figuren passen will und dennoch nicht unpassend wirkt.