Die Hängematte des Lebens – am selben Fleck und doch bewegt

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biancaneve_66 Avatar

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Der Augenarzt Marco Carrera trägt den Spitznamen Kolibri seit er ein kleiner Junge ist. Erwachsen scheint er glücklich verheiratet – bis der Psychoanalytiker seiner Frau gegen sein Berufsethos verstößt und ihn vor seiner Frau warnen will. Im Anschluss wird Marco gesamtes Leben aufgerollt und damit auch seine Begegnungen mit verschiedenen Menschentypen; von seiner Kindheit bis zu seinem Tod.
Das helle Grün des Covers wirkt sehr beruhigend, wird aber belebt und bewegt durch die Abbildung eines Kolibri, der in ständiger Bewegung zu sein scheint. Und doch bleibt er an derselben Stelle. Genau wie der Protagonist Marco, der in seinem Leben einige Schicksalsschläge hinnehmen muss, dessen Leben sich aber dennoch nicht zu verändern scheint.
Der Autor verwendet in diesem Roman einige wenige, recht kurze Sätze, deren Aussage aber immer ins Schwarze trifft. Der restliche Roman ist in langen verschachtelten Satzgebilden verfasst, die aber ebenso sitzen. Keines der Wörter ist zu viel, jedes Adjektiv, jeder weitere Nebensatz hat einen Sinn, und was für den Leser am wichtigsten scheint: niemals verliert man sich in den umfangreichen Sätzen, weil sie logisch sind und man der Aussage des Autors auf diese Weise immer spielend leicht folgen kann. Veronesis Schreibstil mag in der Theorie unmöglich erscheinen, in der Praxis wird er aber geradezu perfekt umgesetzt. An dieser Stelle gebührt auch dem Übersetzer Michael von Killisch-Horn ein großes Lob, dem es hervorragend gelungen ist, jede Nuance des italienischen Originaltextes ins Deutsche zu transportieren.
Veronesi erzählt die Geschichte nicht chronologisch, sondern springt zwischen den verschiedenen Lebensabschnitten Marcos hin und her. Und dennoch verhält es sich auch hier wieder wie mit dem Schreibstil: der Leser verliert sich nicht, sondern hat am Ende ein komplettes Bild der Protagonisten vor Augen. Jedes Kapitel, jeder eingefügte Brief, jedes Telefonat passt großartig ins gerade Erzählte und erläutert auf eigene Weise das Gelesene, selbst wenn Jahrzehnte zwischen den Geschehnissen liegen. Der Autor findet für jede Gelegenheit die passenden Worte, egal, ob er Themen wie Ehe, Familie, Aberglaube behandelt, oder ob über Schuld und Verzeihen, Verlust und Verzweiflung, Krankheit und Tod schreibt.
Marco ist von Anfang an sehr sympathisch gezeichnet. Seine Handlungen und Reaktionen sind nachvollziehbar. Auch alle anderen Personen sind realitätsnah beschrieben und vertiefen das Bild des Protagonisten. Den Premio Strega hat der Roman 2020 mehr als verdient. Veronesi ist damit ein herausragendes Werk gelungen, dem eine absolute Leseempfehlung gewiss ist.