Faszinierende, hoch komplexe Geschichte

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Sandro Veronesi, einer der bedeutendsten Schriftsteller Italiens, hat schon einmal den Premio Strega, den wichtigsten Literaturpreis Italiens, erhalten , und zwar 2006 für seinen Roman „ Stilles Chaos“. 2020 wurde er für den vorliegenden Roman zum zweiten Mal mit diesem Preis ausgezeichnet.
„Der Kolibri“ ist ein ungewöhnlich erzählter und virtuos aufgebauter Familienroman. Im Zentrum steht der Augenarzt Marco Carrera, 1959 geboren ( wie sein Autor ), aufgewachsen mit zwei Geschwistern in einer gut situierten Florenzer Architektenfamilie.
Als Kind war Marco ungewöhnlich klein und zartgliedrig und wurde deshalb von seiner Mutter liebevoll „ Kolibri“ genannt. Eine im Teenageralter angewandte Hormonkur ließ ihn innerhalb einiger Monate um 16 Zentimeter wachsen. Marco war ein talentierter Skifahrer und Tennisspieler ( auch das verbindet ihn mit seinem Schöpfer).
Er verliebt sich jung in die Nachbarstochter Luisa. Eine Liebe, die ein Leben lang hält, aber unerfüllt bleibt.
Mit Ende Zwanzig trifft er die slowenische Flugbegleiterin Marina, die beiden heiraten und bekommen eine Tochter, Adele.
Gleich zu Beginn des Romans erfährt der mittlerweile 40jährige Marco Carrera vom Psychoanalytiker seiner Frau, dass ihn diese betrügt und dass sie ein Kind erwartet, allerdings von einem anderen Mann. Die Ehe mit der psychisch labilen Marina endet in einem Rosenkrieg.
Aber das ist nicht der einzige Schicksalsschlag, den unser Protagonist erleiden muss. Wie ein moderner Hiob erlebt er immer wieder Kummer und Leid.
Seine geliebte ältere Schwester Irene beendet selbst ihr Leben. Die ganze Familie macht sich Vorwürfe, die Anzeichen nicht richtig gedeutet zu haben.
Später wird Carrera seine Eltern auf ihrem krankheitsbedingten Leidensweg begleiten. Beide sterben innerhalb kürzester Zeit hintereinander.
Doch das wird nicht alles sein, was das Leben an Grausamen für ihn bereithält.
Das Glück seines Alters wird seine Enkelin Miraijin sein.
Sandro Veronesi hat mit Marco Carrera einen Helden geschaffen, der trotz allem Unglück nicht verbittert sondern weitermacht. Dazu passt das Zitat von Samuel Beckett, das als Motto dem Roman voransteht: „ Ich kann nicht weitermachen. Ich mache weiter.“
Er bleibt sich selbst treu, flüchtet nicht vor der Verantwortung, wie es viele tun, sondern hält Stand und kümmert sich.
„ Keiner versteht es wie Du, standhaft durchzuhalten, aber keiner versteht es auch wie Du, sich der Veränderung zu entziehen,… Du bist ein Kolibri, weil Du wie die Kolibris deine ganze Energie dafür verwendest, auf der Stelle zu bleiben.“ Das schreibt ihm Luisa in einem ihrer Briefe.
Nicht nur die Figur ist außergewöhnlich, sondern v.a. die Art des Erzählens. Sandro Veronesi hält sich an keine Chronologie. Das Buch ist aufgebaut wie ein Puzzle, das sich dem Leser langsam erschließt. Das macht die Lektüre nicht einfach. Hilfreich ist deshalb, dass jedem Kapitel die Jahreszahl vorangestellt ist.
Dabei wechselt der Autor nicht nur die Zeitebenen, sondern auch die Erzählformen. Lange epische Passagen wechseln mit Dialogen, E- Mails, Briefen Telefonanrufen, Gedichten und Inventarlisten. So führt z.B. Marco in einem Brief an seinen jüngeren Bruder ( der nie beantwortet werden wird wie alle Briefe an den Bruder ) eine Bestandsliste aller vom Vater gesammelten Urania- Romane (Science Fiction ) auf. Anhand der wenigen fehlenden Bände werden wichtige Geschehnisse innerhalb der Familie erklärt.
Die Sprache des Romans ist präzise und zugleich poetisch. Viele kluge Sätze lassen innehalten und nachdenken.
Das Buch greift eine Menge verschiedene Themen auf - es geht um Bindungen unterschiedlichster Art, um die Höhen und Tiefen des Lebens, um die Frage nach Schicksal oder Zufall und vieles mehr.
Lediglich das Ende hat meinen positiven Leseeindruck geschmälert. Hier driftet der Autor ins Esoterische oder Fantasyhafte ab. Das Enkelkind ist zu perfekt, um realistisch zu sein. Es verkörpert mehr eine Idee als eine reale Figur.
Trotzdem kann ich den Roman nur empfehlen. In ihm steckt eine faszinierende, hoch komplexe Geschichte mit facettenreichen und unvergesslichen Charakteren. Sandro Veronesi ist ein Erzähler auf höchstem Niveau.