Meditation über das Leben

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
amara5 Avatar

Von

Sandro Veronesi ist in Italien bereits ein Literaturstar, erhielt zweimal den renommierten Premio Strega – diesmal für „Der Kolibri“. Die opulente, philosophische und sprachlich außergewöhnlich raffinierte Familiengeschichte mit dem Protagonisten Marco Carrera ist intelligent durchdacht und raffiniert komponiert – die Zeiten und die Chronologie brechen aus ihrer Ordnung: Das von Schmerz und Leid geprägte Leben von Marco, der seit einer Wachstumsstörung den Spitznamen Kolibri trägt, rollt sich von Geburt bis zum Tod kaleidoskopartig mit vielen Splittern aus Rückblenden, Briefen, Dialogen und Episoden auf. Und am Ende der gewürfelten Zeitsprünge und cleveren Mosaike ergibt sich ein bewegendes Gesamtbild eines Lebens mit Höhen und Tiefen.

Der ruhige Augenarzt ist eine Art moderner Hiob – viel Leid und Sterben prallen auf ihn ein. Er meistert sein Leben, indem er nicht jeder Veränderung Schritt hält, sondern die Geschehnisse wie der Vogel im Punkt-Schwirrflug betrachtet sowie auch den Objekten und Gegenständen wie dem großen Nachlass der Eltern eine tiefere Bedeutung schenkt. So werden beispielsweise fehlende Ausgaben einer Science-Fiction-Romansammlung scharfsinnig und pointiert in das Erzählte miteingeflochten.

In Veronesis Sätzen steckt viel Intelligenz, die durch eine fantasiereiche und lyrische Prosa getragen wird – das kann auch schon mal kurios ausufern: Manche Assoziationen und Gedankengänge werden über Seiten ausgeführt, aber langweilen nie. Es geht um Schuld, Leid, Liebe, Sucht, Resilienz sowie die begrenzte Lebenszeit – und obwohl Marco soviel familiäre Tragik im Leben überfällt, schwingt eine humorvolle, warme und sehr kluge Lakonie im Schreibstil mit.

Sandro Veronesi ist mit „Der Kolibri“ auf dem Höhepunkt seines jahrzehntelangen Schreibens angelangt – ein gewaltiges, poetisches, tiefsinniges und ergreifendes Epos.

„Ausgehend von dieser Erfahrung lief sein Leben jedoch immer auf die gleiche Weise ab: Jahrelang verharrte es im Stillstand, während diejenigen der anderen sich vorwärtsbewegten, und brach dann plötzlich in ein unerwartetes, außergewöhnliches Ereignis aus, das ihn in ein neues, unbekanntes Anderswo schleuderte.“ S. 297