Ziemlich überfrachtet

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dajobama Avatar

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Der Kolibri – Sandro Veronesi
Dieser Roman wurde mit dem italienischen Premo Strega 2020 ausgezeichnet. Und wie so oft bei preisgekrönten Werken war es mir irgendwie von allem zu viel.
Im Wesentlichen wird hier das Leben des Augenarztes Marco Carrera erzählt. Dieser ist ein ewiger Verlierer, ein typisches Opfer des Lebens, das sich von Schicksalsschlag zu Schicksalsschlag treiben lässt, ohne sich je davon zu erholen.
Das Raffinierte an der Erzählweise ist die Anordnung der einzelnen Fragmente als großes Puzzle. Willkürlich springt die Handlung zwischen Ereignissen in Marcos Leben vor und zurück – gekennzeichnet einzig durch die Angabe der jeweiligen Jahreszahl in der Kapitelüberschrift. Dieses Vorgehen ist spannend – fügen sich doch die einzelnen Teile nach und nach zu einem Gesamtbild zusammen. Allerdings wird man immer wieder aus dem Lesefluss herausgerissen und muss sich komplett neu orientieren.
Auch der Inhalt der verschiedenen Episoden ist besonders. Vieles erscheint märchenhaft, auf jeden Fall sehr kreativ. An Ideen scheint es Herrn Veronesi auf keinen Fall zu mangeln. An manchen Stellen fühlte ich mich an gewisse südamerikanische Autoren erinnert (wie nannte sich das noch… magischer Realismus?).
Das Nachwort am Ende des Buches bringt hier etwas Licht ins Dunkel. Scheinbar hat Veronesi etliche Ideen (bekannter?) italienischer Autoren aufgegriffen. Bei mir bleibt auch hier wieder eher ein Gefühl der Unzulänglichkeit zurück. Es gibt so einiges, was man nicht wirklich ernst nehmen kann. Zweifellos ist auch das beabsichtigt, nur erschließt sich mir das wahre Wesen dieses Werkes nicht. Es wirkt vieles sehr künstlich, zwanghaft zu einer Geschichte gepresst.
Inhaltlich ist die Psychoanalyse ein großes immer wiederkehrendes Thema. Beispielsweise der eingebildete Faden am Rücken der Tochter…. Allerdings ist Marco ein großer Kritiker ebendieser Psychoanalyse, scheinbar sieht er darin den Quell allen Übels. Hm, ich bin mir nicht sicher, was der Autor uns mit diesem Werk sagen will. So wie ich mir sicher bin, dass ich sehr vieles darin nicht verstanden habe. Die Familiengeschichte ist wohl nur vorgeschoben, aber worum geht es eigentlich? Ist dies eine Abrechnung mit allen möglichen Dingen, beispielsweise eben der Psychoanalyse? Es ist ein Werk, das furchtbar komplex ist. Offenkundig eine Familiengeschichte, die recht leicht zu greifen ist. Allerdings kann ich das was dahinter liegt, nicht fassen.
Dann auch noch eine Liebesgeschichte, die Jahrzehnte andauert und sich im Prinzip auf Briefkontakt beschränkt. Einige Briefe sind abgedruckt – furchtbar überzeichnet, irgendwie unpassend und unbegreiflich, warum diese beiden unglücklichen Figuren es partout nicht geschafft haben sollen, zusammen zu kommen. Auch hier: was will der Autor damit ausdrücken? Ich komm nicht dahinter.
Insgesamt also ein einigermaßen gut lesbarer Roman über eine Familiengeschichte, serviert als Puzzle. Zurück bleibt ein unbefriedigendes Gefühl, soviel nicht verstanden zu haben, nur an der Oberfläche gekratzt zu haben. Sprachlich und inhaltlich total überfrachtet – eine anstrengende Lektüre, für die ich auch recht lange gebraucht habe.
Auch wenn ich der Meinung bin, dass dies schriftstellerisch eine großartige Leistung ist, hat es mir trotzdem nicht wirklich gefallen. 3 Sterne!