Ein Klassiker wird zum Historienthriller – Faust als Robert Langdon der Lutherzeit

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Viel ist bisher in deutscher Sprache über den Mann geschrieben worden, der 1520 dem Bamberger Bischof nachweislich ein Horoskop ausstellte. Doch eine Frage ist berechtigt: Würden wir heute noch von den Legenden um ihn herum wissen, wenn es nicht Goethes großes Drama in zwei Teilen geben würde? So kommt auch Oliver Pötzsch zweiter Faustroman „Der Lehrmeister“ nicht ohne die Bezüge zum Klassiker aus. Das stört aber nicht – eher im Gegenteil: Es erleichtert einem den Einstieg in die Handlung, gerade wenn man den ersten Teil „Der Spielmann“ nicht gelesen hat. Nach der Lektüre der knapp 800 Seiten von „Der Lehrmeister“ – das kann ich versprechen – hat man auf jeden Fall einen anderen Faust als den aus der Schullektüre vor sich und neben der deutschen Volksbuchfigur noch viele weitere historische Figuren und ihre Wirkungsorte genauer kennengelernt.
Die Handlung setzt mit einem Johann Faust ein, der als Zaubermeister durchs Land zieht und zusammen mit seinem Adlatus Karl Wagner und seinem Mündel Greta die Leute zum Staunen bringt. Taschenspielertricks nennen sie auch selbst die Höhepunkte ihrer Vorführungen und die Zeit, in der Faust sie von seinem geheimnisvollen Lehrmeister Tonio del Moravia als Erfüllung eines Paktes gelernt hat, liegen schon eine Generation in der Vergangenheit. Jetzt aber ist die Zeit, in der ein Mönch namens Martin Luther die Öffentlichkeit noch mehr beschäftigt und man sich im deutschen Reich auf den Tod des Kaisers und den Streit um die Neubesetzung des weltlichen Oberhaupts vorbereitet. Das kirchliche Oberhaupt Papst Leo sorgt derweil in Rom dafür, dass die Kirche sich enorm durch Saus und Braus verschuldet. In diesem Kontext erhält der Roman auch eine stark politische Ebene, in die Faust verstrickt wir, weil mehrere Machthaber in diesen kostspieligen Auseinandersetzungen auf das Geheimnis vom Goldmachen, das ihm zugesprochen wird, scharf sind. Er weiß nicht, wie er in diesen Verdacht kommt, denn die Lösung der Frage aller Alchimisten hat er nicht im Entferntesten in der Hand. Gleichzeitig quälen ihn Zuckungen und Lähmungserscheinungen. Mit 40 Jahren ist er zu dieser Zeit ja auch nicht mehr der Jüngste! Auf der Suche nach Erklärungen macht er sich mit seinen Begleitern auf den Weg nach Frankreich, wo er sich Hilfe bei niemand Geringerem als Leonardo da Vinci erhofft. Doch es tun sich immer mehr Geheimnisse auf. Nach einem ersten dramatischen Höhepunkt auf Tiffauges, einem Schloss mit tatsächlich grauenhafter Vergangenheit, setzt die Handlung zwei Jahre aus und entführt uns danach in das Herz der geistlichen Macht – nach Rom, wo mehrere nur scheinbar ungleiche Endgegner auf Johann Faust warten.
Das alles ist trotz des Umfangs des Romans rasant erzählt. Überraschende Wendungen und immer neue offene Fragen lassen einem das Weiterlesen nicht schwer werden. Spätestens in der ewigen Stadt wird man ein wenig an die Schnitzeljagden eines Robert Langdon in der Gegenwart erinnert. Wie bei Dan Brown kommt es auch bei Oliver Pötzsch hier zum High Noon im Vatikan. Überhaupt fühlt man sich durch die Sprache und die Verhaltensweisen der Figuren nicht immer hundertprozentig in das 16. Jahrhundert versetzt. Wer dies aber nicht für die Aufgabe eines historischen Thrillers hält, bzw. ohnehin für unmöglich hält, der ist mit „Der Lehrmeister“ gut bedient. Als Beleg für das vorhandene historische Gerüst, lädt der Autor als Zugabe am Schluss noch zu einer kurzen Reise an die Stätten des Romans in einem „Reiseführer auf Fausts Spuren“ ein. Wer diese Wege scheut, der hat aber vielleicht die Anregung, mal wieder in Goethes Faust oder auch einmal in die alten Volksbücher zu schauen!